Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort
Dann schaute sie sich um, als befände sie sich an einem fremden Ort.
Allmählich nahm sie die Titel der Bücher vor dem Sofa wahr, die Gedichtbände Tiroschs: Das süße Gift des Geißblatts, Hartnäckige Brennesseln, Notwendige Gedichte.
Die Wörter klangen wie Töne in ihren Ohren, ohne Bedeutung. Die Farben der Einbände, von denen zwei von Ja'akov Gafni, Tiroschs Lieblingsmaler, gestaltet worden waren, kamen ihr unerträglich grell vor.
Ohne daß sie wußte, warum, legte sie die Bücher auf einen Haufen. Als sie auf dem Boden kniete, erblickte sie unter dem Kissen ein weiteres Buch, das nicht von Tirosch stammte. Lieder eines grauen Kriegs stand auf dem Umschlag, und darunter »von Anatoli Ferber«. Und weiter: »Bearbeitet und herausgegeben von Scha'ul Tirosch«.
Ruchama schaute unter das Sofa und zog von dort Tuwjas Buch hervor: »Die Bedeutung Tiroschs – Betrachtungen zu den Gedichten von Scha'ul Tirosch«, außerdem noch zwei Sonderdrucke, Vorlesungen über Gedichte von Scha'ul Tirosch.
Er hat es ihm gesagt, dachte Ruchama. Scha'ul hat ihm alles erzählt. Er hat es ihm gebeichtet, und jetzt überlegt Tuwja, ob er die Beziehung zu ihm abbrechen soll. Vielleicht auch mit mir. Ruchama stand auf. Ihre Knie waren voller Staub. Vor zwei Monaten hatte Tuwja zuletzt sein Zimmer saubergemacht. In den Ecken neben dem Schreibtisch lagen dicke Staubflocken. Ohne zu überlegen, wischte sie den Staub mit der Hand zu einem dicken Knäuel zusammen.
Das Klingeln des Telefons ließ sie zusammenfahren. Erst ging sie nicht hin. Es klingelte hartnäckig weiter, dann hörte es auf, um kurz darauf wieder anzufangen, als wolle es bis in alle Ewigkeit damit fortfahren. Schließlich nahm Ruchama den Hörer auf, der noch immer feucht und klebrig war von Tuwjas ewig schwitzenden Händen.
»Wie geht es dir, Ruchama? « fragte Zipora mit mütterlicher Besorgnis.
»Besser«, sagte Ruchama und zog an ihrem T-Shirt. Sie kniete sich hin und wischte mit der anderen Hand ein weiteres Staubknäuel zusammen. Vor ihrem inneren Auge sah sie das schwarze Telefon, das Büro der Krankenaufnahme im Scha'arei Zedek, die Hand Ziporas, die beim Sprechen über die Resopalplatte strich.
»Hast du noch Fieber?« fragte Zipora, und Ruchama sah den schweren Körper, die geschwollenen Füße, die Knöchel, die unter der Last des Körpers bläulich angelaufen waren. (»Krampfadern an den Beinen, von der ersten Schwangerschaft, das ist es, was mir von ihnen geblieben ist«, hatte Zipora damals gesagt, als ihr Sohn seine Freundin mit nach Hause brachte und verkündete, daß er die Absicht habe zu heiraten. »Warum hat er es so eilig? Was hat er davon? Was habe ich davon?«) Und Ruchama antwortete, nein, sie habe kein Fieber mehr.
»Nimmst du etwas? Aspirin, hörst du, Aspirin und heißen Tee mit Zitrone und viel Hühnersuppe«, sagte Zipora. Ruchama schwieg. Sie würde heute nicht zur Arbeit gehen, überlegte sie. Sie wollte nur ins Bett.
»Gut, ich will dich nicht länger stören, leg dich wieder hin, das ist am besten. Nicht zu früh aufstehen, du kannst dir nicht vorstellen, zu was für Komplikationen das führen kann. Was wir hier alles in den letzten Tagen gesehen haben. Erst heute ist ein junges Mädchen gekommen, fast noch ein Kind, eine Soldatin, ich weiß nicht, was sie sich bei der Armee denken.«
Ruchama begann, in dem Buch von Anatoli Ferber zu blättern, »einem der hervorragendsten Gegner des Regimes in der Sowjetunion nach Stalin«, wie Scha'ul Tirosch in seiner Einleitung geschrieben hatte. »Geboren 1930 in Israel, damals Palästina, zog er mit seiner Mutter nach Moskau, als er drei Jahre alt war, und starb 1955 unter ungeklärten Umständen in einem Arbeitslager in Perm in Mordavia, im Ural.« Und plötzlich hörte sie die Stimme Scha'uls durch den Hörer, über Ziporas Stimme hinweg, als ob er ihr die Einleitung vorlas.
Panik erfaßte sie. Wunderbarerweise gelang es ihr gerade noch, Ziporas Redefluß zu unterbrechen und mit schwacher Stimme zu sagen: »Ich bin jetzt müde, reden wir morgen bei der Arbeit weiter, Zipora, auf Wiedersehen.« Vorsichtig legte sie den Hörer auf, ließ das Staubknäuel fallen, legte sich auf den Rücken und starrte an die Decke. Schließlich schloß sie die Augen, und als sie wieder aufwachte, war es drei Uhr nachmittags.
Im Haus war es ruhig, die Fenster waren geschlossen, sie hatte den Geruch von Staub in der Nase. Tuwja war nirgends zu entdecken. Nicht in der Küche, nicht im Bad, nicht im
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