Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort
das auf dem Tisch stand, ausgesteckt hatte. »Adina hat angerufen, sie sucht Scha'ul«, sagte Ruchama unsicher.
»Warum sucht sie ihn bei uns?« fragte Tuwja.
»Ich weiß es nicht. Sie versucht schon seit gestern, ihn zu erreichen. Ist er irgendwo hingefahren?«
»Keine Ahnung«, sagte Tuwja und setzte sich auf.
»Was ist los?« fragte Ruchama, und Tuwja antwortete nicht. »Jedenfalls hat sie gesagt, du sollst sie anrufen, bevor du kommst. Sie hat gesagt, du mußt hin. Hast du heute Vorlesung?«
Tuwja nickte. »Es ist die letzte große Vorlesung in diesem Jahr«, sagte er mit unendlich müder Stimme. »Diese Woche geht das Semester zu Ende, ich habe nur noch zwei Seminare.«
»Gut. Dann ruf Adina an. Ich glaube, ich gehe heute wieder zur Arbeit.«
Tuwja reagierte nicht. Er starrte noch immer geistesabwesend vor sich hin.
Ruchama betrachtete ihn mit wachsender Panik. Vermutlich hatte er es ihm doch gesagt, eine andere Erklärung gab es nicht.
Tuwja schüttelte sich und streckte die Beine aus. Das kleine Zimmer war vollgestopft mit Büchern. Überall lagen Stapel, in den Regalen, auf dem Schreibtisch, auf dem Fußboden. Zum Teil waren sie aufgeschlagen, in anderen steckten Notizzettel. Jedes Buch im Zimmer sah aus, als habe es jemand viele Male in der Hand gehabt. »Abgegriffene Bücher«, hatte Scha'ul Tirosch einmal mit amüsierter Zuneigung zu Tuwja gesagt. »Bücher, die man immer benutzt.«
Ruchama fiel auf, daß Tuwja in seinen Kleidern geschlafen hatte, sie bemerkte den säuerlichen Geruch, der im Zimmer stand. Sein Gesicht war blaß und hatte einen gequälten Ausdruck, als er sagte: » Gut, ich werde sie anrufen. Sonst verfolgt sie mich noch den ganzen Tag. Ich habe keine Kraft, mit ihr zu sprechen.«
Als sie den Stecker in die Dose neben Tuwjas weißem Sofa steckte, fing das Telefon an, ohrenbetäubend zu klingeln. Tuwja nahm den Hörer ab und hielt ihn in einiger Entfernung zum Ohr. Seine dünnen, farblosen Haare standen ihm wirr um den Kopf, und seine Kopfhaut war zu sehen. Der Anblick bereitete ihr Übelkeit.
Von der anderen Seite war die Stimme eines Mannes zu hören. Eine Stimme, die Ruchama kannte, schrie förmlich in den Hörer. Obwohl sie neben der Tür stand, verstand sie fast jedes Wort.
»Wo ist Tirosch? « brüllte Aharonowitsch, und ohne eine Antwort abzuwarten: »Hast du heute morgen schon mit Adina gesprochen?«
Tuwja sagte leise, er habe noch mit niemandem gesprochen.
»Dann weißt du noch gar nicht, was passiert ist?« fragte Aharonowitsch.
Mit heiserer Stimme erkundigte sich Tuwja, was denn passiert sei. Er drückte den Hörer ans Ohr, und die kleinen Äderchen in seinem Gesicht wurden blau, während er schweigend zuhörte. »Gut, ich komme sofort zur Fakultät«, sagte er und legte den Hörer auf.
Plötzlich schaute er Ruchama an, als sähe er sie zum ersten Mal. Er betrachtete sie erstaunt, mit einer Fremdheit, die sie noch nie in seinen Augen gesehen hatte, und sagte: »Ido Duda'i ist umgekommen, bei einem Taucherunglück.« Ruchama sah ihn verständnislos an.
»Er hat einen Tauchkurs mitgemacht. Er mußte noch zweimal tauchen, um den Schein zu bekommen. Vorgestern ist er nach Eilat gefahren, gleich nach der Versammlung. Gestern ist es passiert, Einzelheiten weiß ich noch nicht. Ich fahre zur Fakultät. Wenn jemand mich sucht, dann sag, daß ich im Sekretariat bin. Sie versucht seit gestern abend, Scha'ul zu erreichen.«
»Wer? Wer hat ihn gesucht?« fragte Ruchama mit kaum verhohlener Panik.
»Ruth Duda'i hat Adina informiert, und Adina hat gestern noch angefangen, hinter ihm herzutelefonieren, von zu Hause, hat ihn aber nicht erreicht.« Tuwja suchte fieberhaft nach den Autoschlüsseln und fand sie schließlich unter der Kopie des ersten Teils von Ido Duda'is Doktorarbeit. Er schüttelte sich, murmelte etwas Ironisches und verließ das Haus.
Ruchama blieb noch eine Weile mitten im Zimmer stehen, dann setzte sie sich langsam auf das Sofa. Das lange T-Shirt, das ihr als Nachthemd diente, hatte sie seit letztem Donnerstag nicht mehr ausgezogen. Ihr Blick fiel auf ihre nackten Knie. Langsam, wie unter dem Einfluß von Beruhigungsmitteln, legte sie die Hand auf ein Knie und streichelte mit ihren dünnen, kurzen Fingern darüber. »Die Hand eines Kindes«, hatte Scha'ul manchmal gesagt und die Hornhaut geküßt, die vom Lutschen an ihrem Daumen zurückgeblieben war. Ruchama steckte den Daumen in den Mund. Der süße, beruhigende Geschmack von früher war verschwunden.
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