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Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort

Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort

Titel: Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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Zigarette anzündete.
    Wieder betrachtete Racheli die Menschen im Zimmer und stellte fest, daß Professor Kalizki noch immer gedankenverloren neben der Tür stand. Ihr fiel auf, wie klein seine Füße in den dicken Socken und den weichen Sandalen waren, die er trug, und plötzlich fiel ihr ein, was über ihn erzählt wurde, über seine allgemein bekannte Genauigkeit hinsichtlich bibliographischer Details.
    Sie erinnerte sich an den Studenten, der in Adinas Zimmer geschrien hatte, die beiden Punkte, die ihm Kalizki wegen eines kleinen bibliographischen Fehlers bei seiner Seminararbeit abgezogen hatte, wären das einzige Hindernis für seine Zulassung zum zweiten Examen. Hilflos gegenüber Kalizkis Sturheit war er immer lauter geworden und verlangte zu wissen, wie er seine Note verbessern könnte. Kalizki hatte diese Frage ignoriert und statt dessen eifrig und mit demselben verwirrten Blick wie jetzt über die Schulter des Studenten die Arbeit in dessen Hand betrachtet, derselbe Blick, mit dem er nun sie durch seine Hornbrille mit den dicken Gläsern hindurch ansah, und zum ersten Mal, seit sie hier arbeitete, empfand Racheli auch ihm gegenüber eine gewisse Zuneigung. Er sah plötzlich in seiner Hilflosigkeit so menschlich aus, so traurig und erschüttert, und als er ihr die kindische Frage stellte: »Wo ist Professor Tirosch?« schüttelte sie nur den Kopf, zum Zeichen, daß sie es auch nicht wisse. Dann erst schaute er zu Zipi hinüber, die in einer Ecke des Zimmers im Schneidersitz auf dem Boden saß, unaufhörlich schluchzte und von Zeit zu Zeit die Nase hochzog, und schließlich zu Ja'el, die auf dem Bürostuhl neben dem Fenster saß, bewegungslos wie eine Madonnenstatue. Hinter ihr stand Aharonowitsch, an dem Kalizkis fragender Blick hängenblieb. Aharonowitsch wollte ihm antworten, doch in diesem Moment ertönte ein lauter Schrei.
    Und obwohl noch nie jemand sie so hatte schreien hören, wußten alle, daß dieser Schrei von Adina Lifkin stammte, der Fachbereichssekretärin.
    Tatsächlich stand sie in der offenen Tür zu Tiroschs Zimmer und schrie und schrie. Das Zimmer lag neben dem Sekretariat, gleich hinter der nächsten Ecke auf der gegenüberliegenden Seite des Flurs, mit Blick auf die Altstadt. Racheli machte einen Satz, doch Aharonowitsch war schneller, er schob sie zur Seite und packte Adina am Arm, die aufhörte zu schreien und sagte: »Mir ist schlecht, oh, wie schlecht ist mir.« Und dann erbrach sie sich über das Kleid von Dita Fuchs, die zwischen ihr und Racheli stand, und entschuldigte sich noch nicht einmal, sondern ging, gestützt von Aharonowitsch, ins Sekretariat zurück. Racheli hatte einen Moment verständnislos und wie erstarrt dagestanden, unfähig zu begreifen, was passiert war, dann betrat sie Tiroschs Zimmer.
    Sie nahm das Bild in sich auf, bevor Sarah Amir sie brutal am Arm packte, hinausschob und ins Sekretariat zurückführte. Im Vorbeigehen sah sie, wie Kalizki erschrocken und neugierig in das Zimmer spähte, wie sein Gesicht leer wurde, sie sah Tuwja Schaj aus Tiroschs Zimmer eilen und an ihnen vorbeirennen. Überall in dem verwinkelten Flur gingen die Türen auf, von allen Seiten kamen mit bestürzten Gesichtern Menschen gelaufen und stellten Fragen. Sarah Amir beachtete sie nicht.
    Durch den Nebel vor ihren Augen, einem Nebel, in dem nur der Griff Sarah Amirs real war, spürte Racheli eine unaufhörliche Woge von Bewegungen, einen schrecklichen Lärm von Stimmen, und dann fand sie sich im Sekretariat wieder. Dort stand Tuwja Schaj und schrie ins Telefon. »Notarzt, Polizei, schnell! «, und erst dann drang der Geruch zu ihr durch.
    Für eine ganze Weile sah Racheli die Gesichter im Zimmer nur verschwommen, dann löste sich der Nebel langsam auf, und sie bemerkte das Gesicht Aharonowitschs, das Entsetzen in seinen Augen, seine schmalen Lippen, sah, wie er Adina, die zusammengesunken und mit ausgestreckten Beinen auf ihrem Stuhl saß, ein Glas Wasser hinhielt. Adinas Augen waren geschlossen, und Wasser tropfte über ihren dicken Hals und rann von dort zu ihren großen Brüsten, die sich unter ihrem teuren, inzwischen schmutzig gewordenen T-Shirt abzeichneten.
    Schulamit Zelermaiers Gesicht verzerrte sich, als Dita Fuchs etwas zu ihr sagte, sie stand auf und keuchte, ihre Augen quollen noch schrecklicher als zuvor heraus.
    Es war unmöglich, in dem kleinen Zimmer zu bleiben, es war unmöglich, draußen in dem dunklen Flur zu stehen, dessen Ecken und Winkel jetzt so erschreckend

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