Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort
konnte. Oft genug habe ich ihn sagen hören, daß er einem wahren Genius nicht widerstehen könne. Als er von Europa zurückkam, er war dort auf einer Tagung, Anfang des Jahres, sprach er über Florenz, über die Statue des David. Er sprach mit Ido, bei uns im Sekretariat, und ich habe noch nie jemand mit einer solchen Ehrfurcht von einem Kunstwerk sprechen hören. Wie über ...« Racheli suchte nach dem richtigen Wort, er half ihr nicht, sondern wartete geduldig. »... wie über eine Frau oder so«, sagte Racheli endlich und biß sich auf die Lippe.
»Hat er getaucht?«
»Wer? Dr. Schaj? Nein, wie kommen Sie auf so was! Haben Sie ihn gesehen?« Sie verkniff es, sich zu fragen, was der Fall mit Tauchen zu tun habe, denn es war ihr klar, daß sie keine Antwort bekommen würde.
»Hat sonst jemand von der Fakultät getaucht?«
Racheli schaute ihn verständnislos an und schüttelte den Kopf. Dann beantwortete sie gehorsam alle Fragen, die ihre Tätigkeiten seit Freitag nachmittag betrafen, und was sie alles am Wochenende getan hatte. Sie erklärte, sie habe um halb eins aufgehört zu arbeiten, sie sei an der Reihe gewesen, die Wohnung zu putzen und die Einkäufe zu erledigen. Dann habe sie auf ihre Eltern gewartet, die aus Hedera zu Besuch kamen und ungefähr um vier eintrafen.
»Sie stammen also aus Hedera?« fragte er, während er sich Notizen machte. Sie nickte. Erst dann erkannte sie die Absicht hinter seinen Fragen und traute sich, laut zu fragen, ob er ihr Alibi prüfe.
Wieder lächelte er dieses Lächeln, das seine Augen zu zwei schmalen Schlitzen werden ließ und seine Wangenknochen noch stärker hervortreten ließ. »Man muß es nicht unbedingt so nennen«, sagte er, »aber, ja, mehr oder weniger.« Im selben Atemzug fragte er, ob sie eine Vorstellung habe, wer Scha'ul Tirosch ermordet haben könnte.
Wieder schüttelte sie den Kopf. Sie habe in der Nacht lange nachgedacht, sagte sie, weil sie nicht einschlafen konnte, weil sie immer daran denken mußte, wie die Leiche ausgesehen und gerochen habe, aber sie habe wirklich keine Ahnung, wer es gewesen sein könnte. Keiner der Leute, die sie kannte, käme ihr wie ein Mörder vor.
»Und beim Fakultätsseminar?« fragte er, und sie begriff, daß er sie bald wegschicken würde. »Schreibt irgend jemand mit, was dort passiert?«
»Nein, das ist eine ziemliche Massenveranstaltung. Manchmal werden die Vorträge gedruckt, aber das war offenbar ein ziemlich ungewöhnlicher Abend, ich habe gehört, daß alles für Radio und Fernsehen aufgenommen wurde. Zipi hat es mir am nächsten Tag erzählt.« Racheli bemerkte die Veränderung in seinem Gesicht, als falle ein Vorhang herunter, und plötzlich herrschte eine ganz andere Atmosphäre im Raum.
»Fernsehen?« fragte er, und in seinen Augen blitzte es auf. »Ist das immer so, daß das Fernsehen bei den Fakultätsseminaren dabei ist?«
»Nein«, antwortete Racheli, »natürlich nicht. Es gibt doch jeden Monat ein Seminar. Das war wegen Professor Tirosch. Er wurde der Liebling der Medien genannt.«
»Wer hat ihn zum Beispiel so genannt?«
»Ich glaube, Aharonowitsch. Er hat Professor Tirosch immer lächerlich gemacht, wegen allem möglichen. Aber nie in seiner Anwesenheit.«
»Hatte Aharonowitsch einen besonderen Grund, Tirosch lächerlich zu machen?«
»Nicht daß ich wüßte. Vielleicht ist er nur krankhaft neidisch. Nur über Tiroschs Gedichte hat er nie gelacht. Aber neben Tirosch hat Aharonowitsch immer ziemlich abstoßend gewirkt, er ist ja sowieso nicht gerade attraktiv, aber neben Professor Tirosch ist es immer besonders aufgefallen.« Plötzlich fühlte sich Racheli sehr müde, und sie wußte mit verzweifelter Sicherheit, daß dieser Mann sich ihr niemals nähern würde. Sie hatte keine Kraft mehr zu sprechen.
Als wüßte er, wie sie sich fühlte, erhob er sich von seinem Stuhl und sagte, er würde ihre Hilfe vielleicht noch einmal benötigen, aber im Moment könne sie gehen. Für einen Augenblick ruhten seine braunen Augen auf ihr, aber er war mit den Gedanken schon nicht mehr bei ihr.
Eine junge Frau mit blauen, weit aufgerissenen Augen riß mit einem energischen Schwung die Tür auf und rief: »Hör mal, Michael ...« Dann bemerkte sie Racheli und hielt abrupt inne.
Michael, dachte sie, so heißt er also. Und obwohl die Frau wartete, daß Racheli das Zimmer verließ, und nichts mehr sagte, spürte Racheli die Intimität zwischen den beiden, eine Art Gleichheit, und das Herz wurde ihr schwer, als er
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