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Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort

Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort

Titel: Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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entzündeten Lider, das dünne, farblose Haar. »Meine Frau war zu Hause, aber sie hat geschlafen«, beantwortete er die nächste Frage.
    »Da wir gerade von Ihrer Frau sprechen«, sagte Michael und zündete sich noch eine Zigarette an, »wie haben Sie die besondere Beziehung zwischen Ihrer Frau und Tirosch empfunden?« Er hoffte, die Zigarette würde davon ablenken, mit welcher Intensität er die Frage gestellt hatte. Für sein Gefühl begann das Verhör erst in dieser Sekunde. Er war auf Protest, auf irgendeine dramatische Frage vorbereitet.
    Zu seiner Verwunderung protestierte Tuwja nicht. Er fragte nicht, was die Formulierung »besondere Beziehung« zu bedeuten habe. Er schwieg, hob jedoch den Kopf und warf Michael einen Blick zu, der seinen Abscheu vor der Primitivität der menschlichen Rasse im allgemeinen und der des Polizisten vor ihm im besonderen ausdrückte. Für einen Moment verzogen sich seine dünnen Lippen.
    »Wie haben Sie die Sache empfunden?« fragte Michael noch einmal. »Haben Sie gewußt, daß Ihre Frau ein Verhältnis mit Scha'ul Tirosch hatte?«
    Tuwja Schaj sah ihn an und nickte. In seinen Augen sah Michael, abgesehen von der vollkommenen Verzweiflung, auch eine gewisse Verachtung, wobei jedoch nicht klar war, ob diese Verachtung ihm oder dem Thema galt.
    »Also, wie haben Sie es empfunden?« wiederholte er und wartete.
    Da keine Antwort kam, sagte er mit ruhiger Stimme: »Sie wissen, daß das üblicherweise als Mordmotiv gilt.« Tuwja Schaj schaute ihn schweigend an.
    »Dr. Schaj«, sagte Michael Ochajon, »ich rate Ihnen, die Fragen zu beantworten, wenn Sie nicht festgenommen werden wollen. Ich sage Ihnen, Sie hatten ein Motiv, Tirosch zu ermorden, und Sie hatten auch die Gelegenheit dazu. Sie haben keine Zeugen für Ihr Alibi. Sie sagen, Sie wären im Kino gewesen, Sie hätten sich auf der Straße herumgetrieben, Sie hätten niemanden getroffen. Es wird Zeit, daß Sie das Ganze ein bißchen ernster nehmen. Oder wollen Sie wirklich, daß ich Sie verhafte?«
    Tuwja Schaj nickte, als wolle er sagen: Ich habe verstanden. Michael Ochajon wartete.
    »Wie lange hat das Verhältnis zwischen Ihrer Frau und Scha'ul Tirosch gedauert?«
    Tuwja Schaj sagte: »Ein paar Jahre. Mir wäre es lieber, wenn Sie nicht das Wort ›Verhältnis‹ benützten.«
    »Und wann haben Sie davon erfahren?« fragte Michael und ignorierte den Einwurf, der ihn wütend machte. Er verstand nicht, warum er wütend wurde, doch er spürte genau, daß er den Mann, der ihm gegenübersaß, eigentlich nicht verstand.
    »Ich glaube, schon ganz zu Anfang, auch wenn ich sie erst vor zwei Jahren wirklich zusammen gesehen habe.«
    »Und was haben Sie diesbezüglich empfunden?«
    »Meine Gefühle waren ziemlich kompliziert, aber sie haben nichts mit seinem Tod zu tun.«
    »Und mit wem haben Sie darüber gesprochen?« fragte Michael.
    »Ich habe mit niemandem darüber gesprochen.«
    »Auch nicht mit Ihrer Frau?«
    »Nein.«
    »Und mit Tirosch?«
    »Nein. Ich habe mit niemandem gesprochen. Das war eine Angelegenheit, die nur mich etwas anging.«
    »Sie stimmen mir doch wohl zu«, sagte Michael und staunte über den förmlichen Ton, den das Verhör annahm, »daß solche Dinge normalerweise als äußerst belastend betrachtet werden, wenn ein Mord geschehen ist?«
    Tuwja Schaj nickte.
    »Dr. Schaj«, sagte Michael verzweifelt und hatte das Gefühl, er müsse einem Toten befehlen, aus dem Grab aufzustehen, »lieben Sie Ihre Frau?« Tuwja nickte, nicht zur Bestätigung, sondern als habe er die Frage verstanden.
    »Diese Dinge sind etwas komplexer. Wir sind vermutlich nicht sehr konventionell«, sagte Tuwja, und Michael blickte ihn erstaunt an. In einem Moment, in dem er am wenigsten damit gerechnet hatte, bekam er freiwillig eine ausführliche Antwort.
    »Ich erwarte nicht, daß Sie das verstehen. Meine Frau und ich haben nie darüber gesprochen, und Scha'ul hat nie ein Wort darüber verloren, aber wenn ich Polizist wäre, würde ich mich fragen: Warum sollte er ihn jetzt plötzlich ermordet haben, nach diesen ganzen Jahren?«
    Diesmal schwieg Michael. Er betrachtete den Mann, der ihm gegenübersaß, und überlegte, daß Schaj in jedem Zeitungsartikel sicher als der Verlassene dargestellt würde, als armer Mann, der die »Situation« wohl oder übel akzeptieren mußte, doch er selbst spürte – hinter der Verzweiflung, hinter dem Schweigen – die Kraft dieses Mannes. Vergiß die Regeln, sagte er zu sich selbst, es gibt hier andere Gesetze,

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