Ochajon 03 - Du sollst nicht begehren
schließlich ist das deren Arbeit.
Bevor er das Krankenzimmer verließ, warf er noch einen Blick auf Felix, der zusammengekrümmt, mit dem Gesicht zur Wand, dalag, und erinnerte sich mit plötzlichem Schmerz daran, wie Felix einmal Märchenfiguren an die Wände des Kinderhauses gemalt hatte. Er hatte mit den anderen Kindern um Felix herumgestanden, der so groß und stark war. Das war mehr als dreißig Jahre her, Felix mußte damals um die vierzig gewesen sein, jünger als er selbst jetzt, dachte Mojsch erschrocken, und er sah wieder das warme Lächeln vor sich, die Fältchen um die Augen des Mannes, während er mit Kohle die Figuren skizzierte, Schneewittchen und die sieben Zwerge, den Kleinen Hans, wie er die Bohnenstange hinaufkletterte, und dabei dem Geplapper der Kinder zuhörte.
Die Wandbilder gab es immer noch. In jedem Kinderhaus des Kibbuz fanden sich Bilder von Felix. Alle paar Jahre hatten die Kinder den »Felix-Tag« gefeiert. An diesem Tag war er gekommen, hatte die verblaßten Farben erneuert, die Kindergartenkinder auf den Schoß genommen und ihnen die alten, ewig neuen Märchen erzählt, mit so vielen schrecklichen Details, wie die Kinder hören wollten. Mojsch dachte auch an die Figuren, die überall im Kibbuz standen und die jeder Fremde, jeder Besucher sehen wollte. Und obwohl Felix ein bekannter Bildhauer war und etliche seiner Werke überall im Land auf großen Plätzen zu finden waren, Steinfiguren, an denen man nicht vorbeigehen konnte, ohne von der Kraft beeindruckt zu sein, die sie ausstrahlten, und obwohl ihm der Kibbuz ermöglichte, nach eigenem Wunsch und Willen in dem großen Atelier zu arbeiten, das man ihm nicht weit vom Kuhstall gebaut hatte, hatte er immer peinlichst darauf geachtet, sich an den Arbeiten im Kibbuz zu beteiligen. Manchmal arbeitete er ganze Tage, manchmal halbtags, und man konnte sicher sein, daß er an jedem freiwilligen Arbeitseinsatz teilnahm, er hatte sich nie gedrückt. Nie hatte er etwas für sich verlangt, und Nora, seine Frau, die vor ein paar Jahren gestorben war, war genauso gewesen.
Beide lebten bescheiden, waren mit wenig zufrieden, und nie hatten sie sich darüber beklagt, daß sie keine neue Wohnung bekamen. Vier Kinder hatten sie, die Felix nun abwechselnd besuchten. Drei waren im Kibbuz geblieben, und alle drei hatten die Arbeitsmoral ihrer Eltern geerbt, ihre Genügsamkeit und die Zufriedenheit, die aus ihren Augen strahlte. Gadi, der zweite Sohn, hatte von Felix auch die Begabung geerbt, zu pfeifen, ohne sich je im Ton zu irren. Er pfiff heute für den Kibbuz die Melodien, die Felix früher gepfiffen hatte, und man konnte immer wis sen, wo Gadi sich gerade befand, so wie man es früher bei Felix gewußt hatte, weil beide klar und sauber diese langen Melodien pfiffen, von denen Mojsch nur wußte, daß sie aus Opern stammten, noch aus der Zeit, als Felix sie im Kinderhaus gepfiffen hatte, während er die Wände be malte und sagte: »Wißt ihr, was diese Melodie bedeutet?« Und wenn die Kinder schrien: »Was denn?«, hatte er ihnen den Inhalt der Oper erzählt, aus der er gerade eine Melodie pfiff.
In den ersten Jahren hier im Kibbuz war Felix ein »Be sessener« gewesen, das wußte Mojsch aus den Erzählun gen seiner Mutter. Wie Se'ew Hacohen, der keine Frau in Ruhe lassen konnte. Felix hatte sein Zimmer in einen »satanischen Raum« verwandelt, in den jede Nacht Frauen kamen, verheiratete und unverheiratete. Alle möglichen Frauen waren bei ihm, bis Nora in den Kibbuz kam. Nora, die häßlich war und zudem noch ein paar Jahre älter als er. »Sie hat es geschafft, daß er ruhig wurde«, hatte Mirjam erstaunt, aber auch befriedigt erzählt. Nachdem Nora in sein Leben getreten war, hatte Felix seine Ruhe gefunden und schaute keine andere Frau mehr an. Noch immer gab es Gerüchte über »ein Kind, das er einer Frau gemacht hat, die den Kibbuz verließ«, und auch die Frage, ob Ja'ela die Tochter Jedidjas war oder vielleicht doch von Felix, war ungeklärt, aber man sprach nicht mehr darüber. Alles war vergessen. Nur die Gründergeneration erinnerte sich noch an diese Dinge, und mancher lächelte wissend, wenn die Sprache darauf kam. Und jetzt lag Felix hier im Krankenzimmer und wartete auf seinen Tod.
Mojsch schaute auch nach Bracha. Als sie ihre Augen für einen Moment weit öffnete, sah er ihren schlauen, rebellischen Blick. Sie war immer rebellisch gewesen. Er wunderte sich, wie wach sie war, wie sie mitbekam, was um sie herum vor sich ging. Er
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