Ochajon 03 - Du sollst nicht begehren
amerikanische Joint Distribution Committee war verantwortlich, die haben für das Essen und den Transport bezahlt. Es gab ähnliche Zentren an allen möglichen Orten, in Österreich, Italien, der Tschechoslowakei. Das am besten organisierte befand sich offenbar in Österreich, in Mailand war es schrecklich, niemand wußte ... und in Castel Gan dolfo ... Wenn es Srulke nicht gegeben hätte, der dageblieben war, nachdem er in der jüdischen Brigade in Italien gekämpft hatte, wer weiß, was aus uns geworden wäre. Fanja war so krank ...«
Was tue ich hier eigentlich? fragte sich Michael, von einer plötzlichen Panik ergriffen. Warum sitze ich hier und rede über solche Dinge? Wo führt das hin? Warum komme ich nicht zur Sache? Doch dann hörte er sich gegen seinen Willen fragen, ohne zu wissen, warum er das tat: »Und wie seid ihr hergekommen? Was für eine Reise war das?«
»Was wollen Sie wissen, die ganze Geschichte? Sie ist sehr lang«, sagte Guta. Im Zimmer wurde es langsam dunkel. Sie stand auf, um das Licht anzumachen. Michael sah ihrem Gesicht den Wunsch zu sprechen an, zugleich aber auch den Widerstand. Gespannt und konzentriert schaute er sie an. Etwas befahl ihm, das zu tun, was ihm das Herz eingab, bevor ihre momentane Ernsthaftigkeit, das zerbrechliche Zutrauen, das er in ihr geweckt hatte, wieder zerstört wurde.
»Es ist eine lange Geschichte«, wiederholte Guta zögernd, und plötzlich lächelte sie. Das Lächeln brach aus ihrer trockenen Haut, es hatte etwas Träumerisches an sich. Ihre Züge wurde weicher, ihre Vogelnase trat weniger scharf aus dem Gesicht hervor, dessen Falten sich zu glätten schienen. »Wenn ich die Begabung hätte, würde ich diese Geschichte aufschreiben, jemand müßte sie wirklich aufschreiben.« Eine Minute später sagte sie plötzlich, ohne Einleitung, ohne Zögern: »Wir kamen zu Fuß nach Italien, über die Alpen, und über die Grenze sind wir in geschlossenen Lastwagen geschmuggelt worden, als wären wir Vieh. Das war neunzehnhundertsechsundvierzig, alle waren käuflich, alle ließen sich bestechen, die italienische Polizei war korrupt. Sie haben an der Grenze noch nicht mal die Plane zurückgeschlagen. Am Bahnhof von Verona stiegen wir aus, und von dort wurden wir nach Mailand gebracht, wo es eine Küche für die Flüchtlinge gab. Es war ein Transitpunkt, von dort ging es weiter nach Castel Gandolfo. Dort haben wir ein halbes Jahr auf ein Schiff gewartet. Und dort haben wir Srulke getroffen. Danach gingen wir nach Metaponte, wo es ein Lager für die Verrückten gab.«
»Die Verrückten?« fragte Michael.
Sie schaute ihn an, als habe sie seine Anwesenheit vergessen. »So wurden wir von der Obrigkeit genannt«, sagte sie ungeduldig, als hätte er das von selbst kapieren müssen.
»Und es gab weder Essen noch Trinken. Es war am Strand, und das Schiff war noch fünf Kilometer von der Küste entfernt. Drei Tage haben wir dort gewartet, wegen der italienischen Polizei. Und die ganze Zeit taten wir so, als wären wir verrückt. Ich weiß noch, wie es immer hieß: Los, rumspringen, schreien, sie kommen zum Kontrollieren. Und nach drei Tagen wurden wir auf ein kleines, altes Schiff verladen, das für nichts mehr taugte als für den Transport von Flüchtlingen. Wir machten die Reise unter Bedingungen wie im KZ. Es war so voll, man konnte sich nicht hinlegen. Es gab Metallkäfige, und die Leute haben sich gegenseitig vollgekotzt. Am Schluß hatten wir ein Leck, und das Schiff begann zu sinken, und da kamen drei englische Kreuzer, und ein paar Mutige haben sie mit Konservendosen beworfen. Die Briten haben uns umringt und geschnappt und auf ihre eigenen Schiffe umgeladen. Und so sind wir in Haifa angekommen, in der Nacht, als die Raffinerien explodierten. Genau in dieser Nacht sind wir gelandet, und sie haben uns sofort ausgeladen.«
Guta atmete tief, als sähe sie die Szene deutlich vor sich, dann erzählte sie weiter: »Da stand so ein Kerl mit einem roten Barett, und uns haben sie einen nach dem anderen ausgeladen. Es stand auch ein englischer Offizier da, den habe ich gebeten, einen Brief zu schicken. Er hat gesagt: › Schreib, ich werde ihn schicken. ‹ Ich schrieb also an Srulke, er war der einzige Mensch im Land, den ich noch aus dem halben Jahr in Italien kannte, ich schrieb ihm, daß wir in Haifa waren und daß ich keine Ahnung hatte, wie es mit uns weitergehen sollte. Sie nahmen das bißchen, was uns geblieben war, und brachten uns in ein Gebäude, so dachten wir
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