Ochajon 03 - Du sollst nicht begehren
anderes zu tun, als an den Spielautomaten zu hängen, oder die zu Hause auf dem Rücken lagen und mit leeren Augen in die Luft starrten. Oft genug war sie zum Haus von Jeanette Abukasis gerufen worden, um ihr gegen ihren ältesten Sohn beizustehen, wenn dieser kam und Geld von seiner Mutter forderte. Sie versuchte nicht, die Gründe zu verstehen, obwohl sie verschwommen wußte, daß Mottis Situation etwas mit Alberts Verhalten zu tun hatte, auch mit ihrer eigenen Schwäche, denn im Lauf der Jahre schien ihre Kraft nachgelassen zu haben, und sie schaffte es nicht mehr, mit derselben Hartnäckigkeit darauf zu achten, daß er seine Hausaufgaben machte, und wenn sie mit ihm schimpfte, weil er die Schule geschwänzt hatte, lag in ihrer Stimme nicht mehr die gleiche Autorität wie früher, als sie die älteren Kinder erzogen hatte.
Das Wort »Drogen« war ihr nie über die Lippen gekommen. Mit gesenktem Kopf und zustimmendem Nicken hatte sie sich angehört, was die Erziehungsberaterin, die sie zu einem Gespräch in die Schule bestellt hatte, ihr mitteilte. Obwohl sie versucht war, es zu tun, sagte sie kein einziges Mal »Was kann man da machen?«, wie sie es andere Mütter in ihrer Hilflosigkeit hatte sagen hören. Simcha schwieg, dann nickte sie bloß und sagte: »Ich habe verstanden.« Sie fühlte sich der Erziehungsberaterin sogar überlegen, weil diese nicht verstand, wie ernst das Problem wirklich war. Diese Frau, die sich ständig eine widerspenstige Haar strähne unter ihre blaue Kopfbedeckung schob, wußte si cher nichts von den Jugendlichen, die Simcha bei sich »die Verdammten« nannte. Motti war noch nicht unabänderlich verdammt. Es hing alles davon ab, ob es ihr gelänge, ihn aus der Stadt wegzubringen.
Simcha besprach die Angelegenheit einige Male mit ihrem ältesten Bruder, und der sagte endlich, nach einigen fehlgeschlagenen Versuchen, mit Motti zu reden, sie solle ihn in den Kibbuz schicken. Die Hoffnungslosigkeit auf dem Gesicht ihres Bruders, nachdem er versucht hatte, mit Motti zu sprechen, verstand sie nur allzugut. Die Male, die sie es selbst versucht hatte, hatte seine Verschlossenheit sie zur Verzweiflung gebracht, und sie hatte gespürt, wie er ihr immer mehr entglitt. Wenn sie an den Tagen, an denen er die Schule schwänzte, seinen ausdruckslosen Blick sah, einen Blick, der sie überhaupt nicht wahrzunehmen schien, tauchte in ihrer Erinnerung das Bild des weichen, runden Babys auf, das nie nachts weinte, des Kleinkindes, das an ihrem Schürzenzipfel hing und das überglücklich war, wenn sie von der Arbeit nach Hause kam. Wenn sie nun in seine leeren Augen sah, empfand sie, wie noch nie in ihrem Leben, das Gefühl einer schweren Niederlage.
»Wo ist das Problem?« sagte ihr Bruder. »Du arbeitest dort im Kibbuz, du kannst ihn dort unterbringen.« Sie dachte lange über seine Worte nach.
Jeden Morgen, wenn sie die Brote geschmiert und die Kinder zur Schule geschickt hatte, rannte Simcha los, um den Zehn-nach-acht-Autobus von Kiriat Malachi zu erwischen, stieg an der Hauptstraße aus und ging dann zu Fuß die schmale Straße zum Kibbuz entlang. Manchmal, wenn sie Glück hatte, kam ein Auto vorbei und nahm sie mit. Um Viertel vor neun war sie schon in der Krankenstation und löste die Nachtpflegerin ab. Normalerweise kam der Arzt, Dr. Reimer, zum Schichtwechsel und hörte sich mit ihr zusammen an, was es Neues gab. Danach kam er erst nachmittags wieder, wenn sie schon nicht mehr da war. Jedesmal, wenn der Arzt eintrat, nahm sie sich vor, ihn zu fragen, ob sie Motti in den Kibbuz bringen könne, doch jedesmal hielt sie die Scham im letzten Moment wieder davon ab. Seit sie ihre Arbeit als Krankenpflegerin hier begonnen hatte, dachte sie sehr viel über Motti nach. Anfangs gab es noch keine Anzeichen, daß er auf die schiefe Bahn geraten könnte, aber sie fühlte früh seine besondere Schwäche, seinen Mangel an etwas, was ein gebildeter Mensch Ambitionen genannt hätte und für das sie selbst überhaupt keinen Namen hatte. Es war nur so, daß sie angespannt alles beobachtete, was er tat, sein Benehmen, die Freunde, die er sich aussuchte.
Inzwischen war sie fest entschlossen, etwas zu unternehmen. Sie würde nicht Dr. Reimer fragen, sondern sich direkt an das Sekretariat wenden. Ihre Angst vor der Scham besänftigte sie mit dem Gedanken daran, wie freundlich sie von den Kibbuzmitgliedern behandelt wurde. In den zwei Jahren, die sie jetzt hier arbeitete, hatte sie niemals jemand abschätzig
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