Ochajon 03 - Du sollst nicht begehren
behandelt, und die Wertschätzung, die man ihr entgegenbrachte, war mit jedem Tag gewachsen. Das war an den freundlichen Blicken zu merken, an den Lobesworten, am Obst, das man ihr mitgab, und an den Geschenken zu den Feiertagen. Riki, die Krankenschwester, sagte nur Gutes über sie, ebenfalls die Kranken und ihre Familien. Manchmal bekam sie sogar Geschenke von Kranken, die wieder gesund geworden waren, oder von den Kindern alter Leute, die in der Krankenstation lagen.
An das alles dachte Simcha, während sie ihre Arbeit tat, es ging nur noch um den ersten Schritt. Das Problem war, wann sie zum Sekretariat gehen könnte, wenn sie doch bis neun in der Krankenstation zu erscheinen hatte und sich auf dem Rückweg beeilen mußte, um den Autobus um halb vier zu erreichen, denn der nächste fuhr erst um sieben, und so lange konnte sie das Haus und die Kinder nicht allein lassen. Ganz zu schweigen von ihren beiden Enkeln, auf die sie am späten Nachmittag aufpassen mußte, weil ihre Tochter und ihr Schwiegersohn zu einer Hochzeit nach Kiriat Schmona fahren wollten. Und tagsüber war sie allein in der Krankenstation, es war verboten – ein Verbot, das sie nie im Leben übertreten hätte –, die Kranken allein zu lassen. Das hatte man ihr bei ihrer Einstellung klargemacht, und sie verließ die Station immer erst dann, wenn sie am Ende ihrer Schicht losrannte, um den Autobus zu bekommen.
Die Arbeit selbst war nicht schwer. Normalerweise lagen nur wenige Patienten in der Krankenstation, vor allem solche, die wegen einer Infektion isoliert werden mußten, und ein paar alte Leute. Ganz selten waren auch mal Soldaten da, die die Krankenstation des Kibbuz einem Militärhospi tal vorzogen. Es war noch nie passiert, daß überhaupt keine Patienten da waren, deshalb fühlte sie sich auch sicher, daß es immer so weitergehen würde und daß sie nie als Privatpflegerin arbeiten müßte.
Seit sie hier im Kibbuz angefangen hatte, befand sich immer mindestens ein alter Mensch in der Krankenstation. Oft lagen sie monatelang da, und Simcha, die nun Felix betrachtete und überlegte, wie sie ihn aufwecken sollte, um ihn zu waschen, dachte daran, wie traurig es doch war, hier zu liegen und geduldig auf den Tod zu warten, ohne zu kämpfen, so wie ihre Großmutter, die einige Jahre nach ihrer Einwanderung in Israel gestorben war. Die beiden letzten Jahre ihres Lebens hatte sie genauso dagelegen wie jetzt Felix.
»Die Ärmsten«, sagte Simcha laut vor sich hin, während sie die Waschschüssel mit warmem Wasser füllte, und dann dachte sie: Jetzt ist Felix dran, bedauert zu werden. Seine Tochter Sohara schaute zweimal am Tag nach ihm, aber er sprach nicht mit ihr, es war, als erkenne er sie gar nicht. Manchmal kamen auch seine Enkel. Sie hätten ihn lange Zeit in seinem eigenen Zimmer gepflegt, hatte Dr. Reimer gesagt, aber jetzt brauche er ständige Aufsicht. Im Krankenzimmer lagen zur Zeit zwei alte Patienten, und Simcha versorgte beide. Physisch war die Arbeit nicht schwer, nur das Waschen ermüdete sie manchmal. Vor allem bei Felix, mit dem man streng umgehen mußte. Wie ein dickköpfiges Kind verweigerte er seine Mithilfe. Simcha wußte aus Erfahrung, daß seine Tage gezählt waren. Jedesmal, wenn sie ihn mit Hilfe der Sonde fütterte, sah sie wütende Verzweiflung in seinen Augen, und das war eines der Zeichen. Danach kam nur noch das vollkommene Aufgeben. Diese Verzweiflung und seine gelblichgraue Gesichtsfarbe, die Haut, die in Falten um die Knochen hing, zeigten, daß das Ende nicht mehr weit war. Doch natürlich sagte sie das zu niemandem. Während sie Felix betrachtete, dachte sie an Motti. Sie beschloß, noch heute zum Sekretariat zu gehen, auch wenn sie den Autobus um halb vier nicht erwischen würde. Vielleicht würde sie auch etwas früher aufhören zu arbeiten, überlegte sie und erschrak bei dem Gedanken, wegzugehen, bevor die Pflegerin der nächsten Schicht sie ablöste.
Simcha liebte ihre Arbeit. Die Befriedigung, die sie erfüllte, wenn sie die schmutzigen Laken von der Nacht in einer Ecke aufgehäuft sah und der Patient in frischer, gestärkter Bettwäsche dalag, sauber gewaschen, glich der zufriedenen Müdigkeit, die sie freitags abends fühlte, wenn das Haus geputzt war und alle zufrieden um den Tisch saßen. Während sie nun den Waschlappen in die blaue Plastikschüssel mit dem warmen Wasser tauchte, seufzte sie. Felix half von sich aus kein bißchen mit, sondern wehrte sich immer mehr. »Du bekommst offene Stellen
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