Ochajon 03 - Du sollst nicht begehren
zu, als sie sich Seite an Seite über die Wiege beugten und das Baby betrachteten. »Dazu hat mir der Mut gefehlt. Ich weiß gar nicht, wie man dafür sorgt, daß ihnen nichts passiert.« Zärtlich berührte er den nackten Fuß des Babys. Und bevor er wegging, sagte er noch in der Tür: »Paß gut auf ihn auf.«
Auch jetzt, beim Anblick von Machluf Levis Händen, meinte Michael die Zärtlichkeit in Jacques Stimme zu hören, und er entschied, daß die Ähnlichkeit zwischen dem Polizisten und seinem Onkel wirklich nur gering sei. Jacques war auch der einzige gewesen, der ihn unterstützt hatte, als er beschloß, die Universität zu verlassen, das Stipendium für Cambridge auszuschlagen und auf die großartige akademische Karriere zu verzichten, die ihm alle voraussagten, nur um nach der Scheidung in Juwals Nähe zu bleiben. Er war es auch gewesen, der Michael mit Schorer zusammengebracht hatte. »Ein guter Freund von mir«, hatte er zu Michael gesagt, als er dem Chef der Kriminalpolizei die Hand schüttelte. Schorers besonderes Verhältnis zu Michael, die große Sympathie, die er ihm gegenüber zeigte und die der Grund für nicht endenwollenden Neid seiner Kollegen war, ließ sich, das wußte Michael, auf Schorers Freundschaft zu Onkel Jacques zurückführen.
Als Michael Ochajon vor einigen Wochen zur Spezialeinheit für Schwerverbrechen versetzt worden war und angefangen hatte, Tag für Tag von Jerusalem nach Petach Tikwa zu fahren, wäre es ihm nicht im Traum eingefallen, daß der erste Fall, den man ihm anvertraute, ausgerechnet ein Mord in einem Kibbuz sein würde. Als er zum ersten Mal von der Sache erfuhr, reagierte er überrascht und fragte: »Hat es überhaupt schon mal einen Mord in einem Kibbuz gegeben?«
Nahari verzog das Gesicht, als er antwortete: »Zwei Fälle hat es schon gegeben, aber die waren anders. Vor gar nicht so langer Zeit gab es einen Mord aus einem Anfall von Wahnsinn, der andere Fall ist vor langer Zeit passiert, in den fünfziger Jahren, aber da hat es sich nur um versuchten Mord gehandelt.« Er blickte in seine Papiere, las das Aktenzeichen und den Gerichtsbeschluß vor. »Die Frau damals war eine Verrückte, die versuchte, jemanden zu vergiften, der ihr gar nichts getan hatte.« Er hielt Michael eine Fotokopie des Gerichtsbeschlusses hin. »Hier, lies selbst.«
Michael las. »Die Beklagte gegen den Generalstaatsanwalt, Berufungsklage am Obersten Gerichtshof.« Im März 1957 hatten die Richter zehn Tage lang den Fall der Angeklagten behandelt und sie zu sechzehn Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Der Staatsanwalt hatte gegen dieses milde Urteil Berufung eingelegt. Als Michael daran dachte, wieviel Zeit inzwischen vergangen war, der Fall lag vierunddreißig Jahre zurück, hatte er das Gefühl, ein historisches Dokument in den Händen zu halten. Nachdem er ein paar Zeilen gelesen hatte, faszinierte ihn die Urteilsbegründung so sehr, daß er Nahari vergaß.
»Die Angeklagte, früher Mitglied im Kibbuz M., befand sich eines Abends im Speisesaal des Kibbuz. In der fraglichen Zeit aß dort nur ein Lehrer, Herr A., die anderen Mitglieder hatten sich noch nicht eingefunden. Als er sein Mahl beendet hatte, trat die Angeklagte zu ihm und bot ihm ein Schüsselchen Schokoladenpudding an. Herr A. reagierte aus verschiedenen Gründen mit Erstaunen auf dieses Angebot. Erstens wunderte er sich über die Anwesenheit der Angeklagten zu diesem Zeitpunkt im Speisesaal, weil sie ihre Arbeit dort am frühen Nachmittag bereits beendet hatte ...«
Naharis Stimme störte ihn. »Es war nicht beabsichtigt, daß Sie jetzt hier sitzen und den ganzen Fall lesen. Sie können die Unterlagen behalten, ich habe sie mir bereits kopiert. Ich wollte Ihnen nur zeigen, daß früher schon ähnliche Dinge passiert sind.«
Michael hatte die Unterlagen zusammengefaltet und in seine Hemdtasche geschoben. Er wollte sie lesen, auch wenn man ihm den aktuellen Fall nicht übertragen sollte.
Machluf Levi begann nun, die Fakten aufzuzählen, die alle Anwesenden bereits kannten.
»Am Fünften dieses Monats erhielt unsere Polizeistation in Aschkelon einen Anruf von Frau Dr. Gilboa vom Barsilai-Krankenhaus«, sagte Levi mit einer amtlichen Stimme, die Michael verwirrte, weil sie die Schwäche des Sprechers schonungslos enthüllte. Levi war alles andere als ein Dummkopf, schien aber überhaupt nicht zu merken, daß seine Bewegungen und seine Art zu sprechen die Kluft zwischen ihm und den anderen nur noch hervorhoben. »Der Anruf
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