Ochajon 03 - Du sollst nicht begehren
auf eine Parathionvergiftung hingewiesen haben?«
Kestenbaum schüttelte ein paarmal den Kopf. »Es gibt keine Symptome, man muß extra danach suchen. Aber sie ist sowieso zu spät gebracht worden.« Dies führte wie derum zu einem Vortrag über die Untersuchungsmethoden im Ausland, dann wischte sich Kestenbaum die Stirn ab und sagte: »Es ist Frage der Erfahrung. Ich habe viel Erfahrung mit Todesfällen auf landwirtschaftlichem Sektor. Das ist der Grund, warum ich gesucht habe. Außerdem habe ich ganz ähnlichen Fall gehabt, vor langer Zeit.«
Sie schwiegen beide, bis Kestenbaum, den Blick in falscher Bescheidenheit auf die Fußspitzen gesenkt, sagte: »Damals habe ich sogar ein Buch über diese Sache geschrie ben. Es war Lehrbuch an der juristischen Fakultät.«
»Wirklich?« fragte Michael interessiert.
»Ja, ja«, bestätigte Kestenbaum. »Das war in Ungarn, wirklich.«
»Wie ist das Parathion in ihren Körper gekommen? Können Sie das auch sagen?«
»Natürlich«, sagte Kestenbaum mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Es gibt verschiedene Möglichkeiten. Ich glaube nicht, daß es durch die Haut war. Wenn man Para thion auf die Haut bekommt, kann man sofort sterben, wenn die Menge groß genug ist. Aber es war auch was im Magen. Ich denke, es war über Trinken, oder über Essen, vielleicht mit Pflaumen.«
»Sprechen Sie über Selbstmord?« fragte Michael und drückte auf den Knopf des Aufnahmegeräts.
Kestenbaum schaute ihm vergnügt zu. »Alles wird im Bericht stehen, den wir bald schreiben«, versprach er. »Ich weiß nicht, ob es Selbstmord ist oder Unfall oder Mord. Das ist schon Ihre Aufgabe.«
»Sie haben gesagt, Sie hatten früher einmal eine ähnliche Geschichte«, sagte Michael. »Könnte die mir helfen?«
Kestenbaum zuckte mit den Schultern. »Ich kenne viele Geschichten, oho, und wie viele, aber ich hatte einen Fall mit Lungenentzündung, ich kann Ihnen den Fall erzählen.«
»Bitte«, sagte Michael.
Kestenbaum zog tief den Rauch seiner Zigarette ein und sagte vorsichtig: »Ich erzähle es wie eine Geschichte, ja?« Er wartete noch nicht einmal die schweigende Zustimmung Michaels ab, der sich mit verschränkten Armen zurück lehnte, die Beine ausstreckte und den Blick nicht von seinem Gegenüber nahm.
»An einem Tag Ende Dezember bekam ich Anruf als Gerichtsmediziner. Ein dreijähriger Junge mit Lungenentzündung ist bei einer Penicillinbehandlung gestorben, in einer ambulanten Krankenkassenstation. Die Mutter hat Kind für Penicillinspritze hingebracht, Junge war fast drei Jahre alt. Die Mutter hat noch mit der Krankenschwester gesprochen. Sie hatte Dienst, es war der fünfundzwanzigste Dezember, der Geburtstag von Jesus.« An dieser Stelle warf er Michael einen verwirrten Blick zu. »Sagt man das so?« Michael nickte und meinte ermutigend: »Ja, ja.« Kestenbaums Gesicht bekam wieder den dramatischen Ausdruck, den es vorher gezeigt hatte.
»Das war kein offizieller Feiertag bei uns, war aber trotzdem einer. Fünfundzwanzig Minuten nach der Spritze, die Mutter unterhält sich noch mit Krankenschwester über Kleinigkeiten, hören sie von draußen Geräusche und finden Kind im Koma. Ein paar Minuten später stirbt das Kind in der ambulanten Station.« Kestenbaum schwieg einen Moment, als wolle er seinem Gesprächspartner Zeit lassen, die Tatsachen aufzunehmen, und Michael fühlte sich genötigt, ein »Aha« zu murmeln, Zustimmung und Erstaunen zugleich, um eine gewisse Ausgewogenheit im Dialog herzustellen. »Nun war das Problem«, fuhr Kestenbaum fort, »woran ist der Junge gestorben, an einem anaphylaktischen Penicillinschock oder nicht? Und die Diagnose ist Aufgabe eines Arztes, er muß es sagen.«
Kestenbaum atmete tief ein, drehte das Gesicht und erklärte: »Ich erzähle Ihnen jetzt nur kleine Details, aber ich habe darüber ein Buch geschrieben.«
Michael nickte. »Ja, ja, ich erinnere mich.«
Wieder senkte der Pathologe in scheinheiliger Bescheidenheit den Blick. Michael beobachtete ihn interessiert und überlegte, ob es eine Gesetzmäßigkeit für das Phänomen gab, daß bestimmte Neueinwanderer in der hebräischen Sprache den Buchstaben »h« als »ch« aussprachen, ein andermal wiederum »ch« als »h«. Er unterdrückte ein Lä cheln, und Kestenbaum fuhr fort: »In dem Telefonge spräch, welches ich vom Staatsanwalt bekomme, sagt er mir, ich soll zum Tatort gehen. Ich habe schon gesagt, im Ausland bringt man nicht Leiche zum Institut, weil durch Transport alle möglichen
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