Ochajon 03 - Du sollst nicht begehren
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»Aber wenn Sie nie in einem Kibbuz gelebt haben«, sagte er, und Michael wußte, daß er diesen Satz noch viele Male hören würde, »können Sie das alles nicht verstehen. Sie verstehen nicht die Heiligkeit der Arbeit. Arbeit ist der höchste Wert. Sie können eine komplette Null sein – wenn Sie arbeiten, wie es sich gehört, verzeiht man Ihnen alles.«
»Und außer Jankele, nehmen wir mal an, er war es, den Sie nachts gesehen haben, was können Sie mir sonst noch sagen?« fragte Michael, als Meros schwieg.
»Da gibt es noch Towa und die Geschichte mit ihrem Ehemann, Boas, der in Osnat verliebt war und sich immer in der Nähe ihres Zimmers herumgetrieben hat, besonders nachdem sie Witwe geworden war, und versucht hat, mit ihr ins Bett zu gehen.« Wieder hörte Michael eine Beschreibung der Szene im Speisesaal.
»Wer fällt Ihnen noch ein? Mit wem sollten wir sprechen?«
»Mit Alex. Er stand Osnat nahe, auch als Riwa noch gelebt hat. Osnat konnte Riwa nicht leiden. Und mit Dworka natürlich. Was weiß ich, mit allen. Mit Mojsch. Mit Chawale würden Sie nur Ihre Zeit vergeuden, das lohnt sich nicht, obwohl sie meiner Meinung nach eine hervorragende Klatschtante ist. Mit Jojo, mit Matilda, wenn Sie Bosheit ertragen können. Was für eine Bosheit, was für ein Neid! Was für ein Blödsinn das ist, dieses ganze Gerede übe r eine vollkommene Gemeinschaft, eine ideale Gesellschaftsform. Schauen Sie nur, was daraus geworden ist! Von Anfang an war das Blödsinn, die Idee einer Gesellschaft, in der alle gleich sind und jeder nach seinen Fähigkeiten und Bedürfnissen etwas beiträgt. Blödsinn!« Meros trank einen Schluck Wasser. »Und was ist daraus geworden? Eine Gemeinschaft, in der jeder nach seinen Fähigkeiten etwas nimmt, je nachdem, wie kräftig seine Ellenbogen sind und wie laut er schreien kann. Das ist daraus geworden. Und das gemeinsame Schlafen im Kinderhaus – schon mit zwölf mögen die Kinder das nicht mehr. Es gab viele, die noch mit zwölf ins Bett gepinkelt haben, andere sind nachts aufgewacht. Und dann die ganzen Überlegungen, wer am besten die Nachtwache im Kinderhaus übernimmt. Und die Eltern, sie hatten überhaupt nichts zu sagen. Nie hat man die Eltern etwas gefragt. Ich erinnere mich daran, wie das Schwimmbad gebaut wurde, und der Erziehungsausschuß entschied, ab welchem Alter die Kinder allein ins Schwimmbad gehen durften. Ich weiß es, ich war nämlich Rettungsschwimmer. Ja, ja«, beantwortete er Michaels erstaunten Blick, »ich habe einen Kurs als Rettungsschwimmer gemacht, auch wenn Sie mir das heute nicht mehr ansehen. Damals kamen zwei kleine Mädchen zum Schwimmbad. Ich war schon Student, bin aber in den ersten Jahren sehr oft zu Besuch gekommen. Je mehr Abstand ich bekam, um so seltener wurden dann meine Besuche. Die beiden Mädchen waren also am Schabbat nachmittag allein zum Schwimmbad gekommen ...« Er lächelte wie jemand, der ein fernes Bild betrachtet. »... und ich saß nahe am Tor. Dann sah ich Elka. Sie war damals die Vorsitzende des Erziehungskomitees, und ich habe die bürokratische Rede gehört, die sie den Mädchen gehalten hat. Das Erziehungskomitee hat offiziell beschlossen, daß die Viertkläßler nicht unbegleitet zum Schwimmbad kommen dürfen und so weiter und so weiter. Die Mädchen durften jedenfalls nicht schwimmen. Und die Eltern? Was hatten die Eltern schon zu sagen, sie sind überhaupt nicht gefragt worden, es war, als existierten sie gar nicht. Nur Lotte und Dworka.«
»Wer ist Lotte?«
»Sie war ein paar Jahre lang unsere Betreuerin«, sagte Meros. »Wenn sie mit irgendeiner anderen Lehrerin gearbeitet hätte, hätte sie die größte Autorität gehabt. Aber wegen Dworka hatten wir zwei Göttinnen statt einer. Und man durfte sich mit Fragen und Problemen nicht an die Eltern wenden, das war verboten. Nur an Dworka oder Lotte. Ich glaube, daß die Mütter erst ein Jahr später von der ersten Periode ihrer Töchter erfahren haben.« Er lä chelte nicht. »Erst erfuhren es Lotte und Dworka, höch stens noch Riwa, die Krankenschwester. Die Idee einer gemeinsamen Erziehung für alle – Sie können das Ergebnis selbst sehen, es ist nichts Besonderes dabei rausgekommen. Mittelmäßigkeit und Materialismus bestimmen den Ton. Eine Gesellschaft ohne Herausforderungen, außer der einen, die eigene Individualität zu bewahren.«
Er stockte. »Wenn ich es mir genau überlege, so ist es die Idee der Kibbuzbewegung, die ich nicht mag«, murmelte er
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