Ochajon 04 - Das Lied der Koenige
jemandem, den du kennst?«
»Sie heißt Noa«, antwortete Michael, ohne weitere Erklärung. Ein Gefühl der Verlegenheit überkam ihn, als er sah, wie er sich in Balilatis betretenem, zweifelndem Gesicht spiegelte. »Hältst du mich für einen Idioten?« fragte er schließlich.
»Quatsch«, protestierte Balilati, »es ist nur ein bißchen ungewohnt, denn ... Was machen wir denn jetzt mit ihr, wenn du zur Wohnung des Opfers fährst? Hast du die Spurensicherung bestellt?«
»Sie kann bei mir bleiben«, sagte Nita in ihrer normalen Stimme von ihrem Platz auf dem Sofa.
»Sie und Ido bleiben hier bei mir und Theo. Und bei euch«, sagte sie und sah zaghaft auf Dalit, die auf einem der Stühle in der Eßecke saß.
Michael zuckte nicht mit der Wimper und fragte nicht einmal das zu erwartende »Bist du dir sicher?« Aus Erfahrung wußte er, daß die Bewältigungsstrategien mancher Hinterbliebener erstaunlich waren. Es gab keinen Grund, ihr nicht zu erlauben, die Aufsicht über die Kinder zu übernehmen. Sie war auch nicht allein. Sie sah ihn an, als könne sie seine Gedanken lesen: »Wenn man lebt – dann lebt man«, sagte sie ihm, »solange man nicht gestorben ist. Ich darf nicht sterben«, sagte sie, »alleinerziehende Eltern sterben nicht, sie dürfen es nicht.«
Ido saß auf ihren Knien und riß gurgelnd an ihren Lokken. Die beiden Babys waren friedlich, als ob in ihrer Welt nichts geschehen wäre. Das Telefon klingelte. Nita rührte sich nicht, und Michael hob den Hörer ab. Von der ande ren Seite der Leitung war eine Pause zu hören, bevor eine tiefe, männliche Stimme zögernd nach Nita fragte. Michael machte ihr ein Zeichen mit dem Kopf. »Wer ist es?« fragte sie. Michael zuckte mit den Schultern. Sie rührte sich nicht. »Sie will wissen, wer am Apparat ist«, sagte er in den Hörer. Von der anderen Seite war ein Stottern zu hören, dann ein Schweigen, und der Signalton ertönte. »Aufgelegt«, sagte Michael.
Wieder läutete das Telefon. »Ich habe ihn gefunden«, sagte Zila am anderen Ende der Leitung. »Ich habe die Adresse. Ich habe ihn noch nicht informiert. Er – er hat keine Ahnung. Am besten machst du dich gleich auf den Weg. Sie bringen es schon in den Sieben-Uhr-Nachrichten. Dann wird er davon erfahren.« Er notierte die Adresse auf die Ecke eines Briefumschlags. »Es ist neben der Hapalmach-Straße«, sagte Zila. »Kennst du die Straße? Es gibt keine Zufahrt von ...«
»Ich werde es schon finden«, versicherte Michael und sah Balilati an, der das Aufnahmegerät auf den Eßtisch legte. Als er an der Tür stand, sah er, wie Theo sich aus dem Korb sessel erhob, die Hände in die Taschen steckte und seinen Marsch Richtung Balkontür aufnahm.
7
Eva mit den drei Gesichtern
An ihren unwirschen Gesichtern war zu ersehen, daß die beiden Männer schon lange im Streifenwagen der Spurensicherung in der Nähe der Wohnung Gabriel van Geldens warteten. Michael hielt hinter dem Streifenwagen und ging auf die beiden zu. »Sind Sie Kommissar Ochajon?« fragte der ältere der beiden, der auf dem Beifahrersitz saß. Michael nickte.
»Wir haben auf Sie gewartet«, sagte der Fahrer, ein junger Mann mit buschigen Augenbrauen und vernarbtem Gesicht, der sich am Ohr kratzte. »Sollen wir mitkommen?«
»Nein, warten Sie hier unten«, antwortete Michael abwesend.
»Rufen Sie uns, wenn Sie soweit sind«, bat der jüngere. Der ältere Mann fuhr sich mit dem Handrücken über sein rotes Gesicht. »Wird es lange dauern?« rief er hinter Michael her.
Michael drehte sich achselzuckend um. »Ich hoffe nicht, aber man kann nie wissen«, sagte er und fragte sich, ob er die Kollegen zu früh bestellt hatte. Andererseits, dachte er stur, war es besser, wenn sie auf ihn warteten als umgekehrt.
»Man hätte uns auch für später herbeordern können«, wagte der Mann mit dem roten Gesicht, der stark schwitzte, einzuwenden. Michael gab keine Antwort und ging auf das dreistöckige Gebäude mit der abgerundeten Fassade zu. Am Eingang blieb er stehen und sah nach oben. Gelbliches Licht brannte in einem Fenster im dritten Stock. Vor ein paar Wochen hatte man die Zeit umgestellt, und Michael hatte sich noch nicht daran gewöhnt, daß es um sechs Uhr dreißig schon dunkel wurde.
Immer wenn es ihn beim Anblick eines Menschen schauderte, der hemmungslos über den Verlust eines geliebten Menschen weinte, immer wenn er den Schock und die Fassungslosigkeit sah, die dem tatsächlichen Begreifen des Geschehenen vorangingen, war
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