Ochajon 04 - Das Lied der Koenige
mit Gabi war und wie gut er ihn kannte.
»Er hat heute einen schweren Tag«, erklärte er mit verzogenem Mund, zusammengepreßten Lippen und einem Schnalzen, das seinen Stolz nicht verhehlen konnte. Gabi sei sehr nervös gewesen, erklärte er weiter aus freien Stücken. Sein Gesicht nahm einen vorwurfsvollen Ausdruck an, wie das Gesicht eines Menschen, der sich gegen die Strapazen und Mühen ereifert, die die Welt seinem Liebsten auferlegt. »Wegen der Termine mit allen möglichen Musikern, die nach der Probe für sein Ensemble angesetzt sind. Vor allem, weil er eine Auseinandersetzung mit einer der zweiten Geigerinnen des großen Orchesters befürchtet.« Er sprach von dem Orchester, dessen musikalischer Leiter Theo war. Die Geigerin würde aufgrund ihrer jahrelangen Zugehörigkeit darauf beharren, in Gabis Barockensemble aufgenommen zu werden. Außerdem sei sie auf zusätzliche Einnahmen angewiesen (»es ist kaum zu glauben, welche Ansprüche die Menschen stellen«, hatte Isi gemurmelt). »Er ist sicherlich ihretwegen noch nicht zurück«, meinte er lachend, »sie scheint ihn aufzuhalten, diese Furie.« Er schüttelte sich. »Theo hatte auch schon Probleme mit ihr, als sie in die Gruppe der ersten Geiger aufsteigen wollte.« Er selbst habe sie einmal getroffen, als er Gabi abholte. Sie habe in der Ein gangshalle des Konzertzentrums vor einer großen Gruppe von Musikern über den Frust der Musiker lamentiert, die in den hinteren Reihen spielten und die keiner aus dem Publikum sehen konnte. Sie hatte verlangt, wenigstens eine Ro tation der Sitzplätze einzuführen. »Theo macht dies wirk lich manchmal. Einmal alle paar Monate – er hat es mir selbst erzählt – wechseln sie die Plätze, vor allem die Streicher. Er bringt beispielsweise einen erfahrenen Bratschisten nach vorne, um die Motivation zu steigern. Ich erzähle es Ihnen, weil Nita sagt, daß Sie quasi zur Familie gehören ...« erklärte er. »Ich langweile Sie mit Details ...« Er wurde verlegen und schwieg. »Er kommt gleich«, versicherte er erneut und bot ein warmes oder kaltes Getränk an.
Michael hatte sich unbehaglich umgesehen. In der bedrückenden Anspannung dessen, der gezwungen ist, einem Menschen mit solch bodenloser Ironie gegenüberzutreten, inspizierte er das Zimmer, das sehr gepflegt war und in dem eine warme, familiäre Atmosphäre herrschte. Ein paar blühende Zimmerpflanzen, kleine rötliche Blumenstauden auf der Fensterbank.
Schon im Erdgeschoß hatte er den Chor gehört. Es ärgerte ihn, daß er das Musikstück nicht erkannte, obwohl es ihm bekannt vorkam. Die Musik war verstummt, als er im Wohnzimmer stand, das auch als Arbeitszimmer diente. Aus den Augenwinkeln hatte er die kleine Stereoanlage gesehen. Isi hatte vorsichtig auf die Schallplatte gepustet, sie in die Hülle geschoben und den Plattenspieler mit dem durchsichtigen Deckel geschlossen, während Michael mit anerkennender Ehrfurcht das Cembalo betrachtet hatte, das in der Ecke in der Nähe des Schreibtisches stand. Ein kleines Möbelstück aus Nußbaumholz, das wie der Bruder von Nitas Wohnzimmerschrank aussah, nur daß keine Cherubim darauf schwebten, sondern eine Reihe vergoldeter Löwen die Vorderseite schmückte. Der Deckel des Cembalos war geöffnet, und über den gelblichen Tasten stand ein aufgeschlagenes Notenheft. »Welches Stück hat dieser Chor gesungen?« hatte er zu fragen gewagt. Immer war er ängstlich bedacht, bei keiner Bildungslücke ertappt zu werden.
Isi hatte gelächelt. »Es waren nur vier Stimmen«, hatte er gesagt und mit der Schallplattenhülle gewedelt. »Das ›Stabat mater‹ von Pergolesi, kennen Sie es nicht?« hatte er erstaunt gefragt. Michael hatte den Kopf geschüttelt und, um Zeit zu gewinnen, die Hülle studiert. »Nur vier Stimmen?« hatte er bewundernd gesagt. »Es klingt wirklich wie ...«
Isi hatte ihn nachsichtig angesehen. »Es ist eine ausgezeichnete Aufnahme«, bemerkte er trocken, mit seiner tiefen angenehmen Stimme. Isi Maschiach war klein, er hatte breite Schultern und einen stämmigen Körperbau. Seine Haut war hell und empfindlich, und er hatte sich wohl ein bißchen zu lange in der Sonne aufgehalten. Sein graues, wel liges Haar war zurückgekämmt und legte eine hohe, glatte Stirn frei. Das runde und fliehende Kinn verlieh seinen Ge sichtszügen etwas Verbittertes und Labiles und ließ zugleich ein gewisses Harmoniebedürfnis erkennen.
Isis erste Reaktion auf Gabis Tod war das Zucken eines Lächelns. Sein kleiner,
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