Ochajon 04 - Das Lied der Koenige
Überlegung schob er bei seite.
»Haben Sie abgekochtes, lauwarmes Wasser?« hörte er sie hinter ihm herrufen, während er mehrere Stufen gleichzeitig nahm. Die Kleidertüte und die Windeln hielt er in der Hand, und unter dem Arm klemmte der Beutel mit den restlichen Sachen. »Für das Milchpulver braucht man ...« Den Rest hörte er schon nicht mehr, nur noch das Schreien, das durch die geschlossene Tür drang. Er stellte sein Gepäck an der Schwelle zur Schlafzimmertür ab und hob das Baby auf den Arm. Er drückte es gegen die Brust. Die gelbe Decke und das rosa Badetuch waren naß. Eine warme Feuchtigkeit breitete sich auf seinem Hemd aus. Er schmiegte seine Wange eng an das kleine Gesicht. Die Wangen der Kleinen glühten. Im ersten Moment fiel ihr Kopf wie durch einen Krampf zurück. Der Körper zappelte widerstrebend, aber dann hörte das Weinen auf, und die Gesichtsmuskeln entspannten sich.
Für ein paar Sekunden war die Welt wahrhaftig vollkommen und friedlich, es fehlte an nichts. Wie von weit her waren die schwachen Klänge weicher Saiten zu hören. Das Baby zappelte und bog sich auf seinem Arm und stieß ein lautes Geschrei der Beleidigung und Frustration aus. Es verging eine Weile, bis Michael verstand, daß es das Cello war und daß die Nachbarin über ihm vor dem Notenständer ne ben ihrem schlafenden Sohn saß und eine vertraute Melo die spielte. Er fand nicht heraus, welches Stück es war, das sein Herz vor süßem Schmerz erweichte. Er bückte sich und hob die Tüte mit den Fläschchen und dem Pulver auf. Er fragte sich, wie lange sie wohl schon dort oben wohnte und wieso er sie nie im Treppenhaus bemerkt hatte. Er dachte, wie schön ihre Augen waren und wie hübsch ihr Lächeln. Wenn sie sich nicht so gehenließe, könnte sie richtig gut aus sehen.
Er las die Anweisungen auf dem Deckel der Dose und setzte sich, damit er das Baby weiter auf dem Arm halten konnte. Auch als er den Öffner, den er seit seiner Militärzeit besaß, in das Blech der Dose drückte und an dem gelblichen Pulver roch, murmelte er in das Öhrchen: »Woher soll einer wissen, wieviel Wasser man für das richtige Verhältnis braucht, damit es so gelingt, wie ein kleines Mädchen es mag.« Aus irgendeinem Grund machte die Tatsache, daß das Baby ein Mädchen war, die Sache schlimmer. Als ob die Kleine mehr Schutz und Pflege brauchte, als er womöglich bieten konnte. Michael maß die nötige Menge Pulver ab, gab zur Sicherheit noch ein wenig mehr in das Fläschchen und verzog erneut das Gesicht, als er das Pulver roch. Er war skeptisch. Ob es sein konnte, daß das Fläschchen der Kleinen schmeckte? Er stellte den elektrischen Heißwasserbereiter an und goß Wasser in ein Glas. Da er den Griff des Babys nicht lockern wollte, dessen Schreie sich jedesmal leg ten, wenn er seine Handlungen in sein Ohr kommentierte, konnte er keinen Wassertropfen zur Probe auf sein Handgelenk geben. Eine Geste, die ihm seit Juwal in Fleisch und Blut übergegangen war. Und so tauchte er den Finger einfach in das Glas.
»Ein Finger ist weniger empfindlich«, brummte er in die rötliche Ohrmuschel. Das Baby brüllte, obwohl er mit ihm sprach, und das Plärren trieb ihn zur Eile an.
»Du mußt wissen, daß man keinen Handgriff vergißt«, versprach er, während er das Kind fest an sich drückte, »es ist wie Schwimmen oder Fahrradfahren.« Er goß das Was ser bis zur Markierung in das Fläschchen, drehte den Sau ger fest und schüttelte kräftig. Er mußte dazu seinen Griff um das Baby lockern, das brüllte wie am Spieß und dessen Körper sich auf seinem Arm bog. Tropfen einer weißlichen Flüssigkeit fielen auf seine Haut. Die Temperatur war in Ordnung. Er setzte sich auf einen Stuhl, nahm das Kind auf den Schoß und schob ihm das Fläschchen in den Mund.
In der Stille, die nun herrschte, war von oben wieder das Spiel zu hören, gefühlvoll und vor süßer Trauer bebend. Er liebte den Klang des Cellos. Was für ein Glückskind die Nachbarin war, das schönste aller Instrumente so zu beherrschen.
Das Baby saugte kräftig, hörte auf, und die Augen fielen ihm zu. Es schien seine Kräfte aufgebraucht zu haben und zu kapitulieren. Vermutlich war es zu hungrig zum Trinken. Michael gab nicht auf. Er befeuchtete die Lippen der Kleinen mit der Milch, die nur aus dem Sauger austrat, wenn er die Flasche schüttelte. Plötzlich begriff er, daß das Loch im Sauger zu eng sein mußte. Vielleicht hatte die Kleine nichts herausbekommen. Wie um diesen Verdacht zu
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