Ochajon 04 - Das Lied der Koenige
in das allmählich das Blut zurückkehrte.
»Ido«, sagte sie zu ihrem Kind, dessen Lider flatterten, als sei es im Begriff einzuschlafen, »du hast eine neue Freundin. Das ist Noa. Noa wurde auf dem Feld geboren.« Michael zuckte erschrocken zusammen, doch dann begann sie die Melodie zu summen, und das Lied fiel ihm wieder ein.
Ido legte den Kopf in die Vertiefung zwischen ihrer Schul ter und ihrem Hals. »Ich habe sie noch nicht angezogen«, sagte Michael entschuldigend. »Ich wollte sie zuerst füttern. Es schien mir dringender zu sein.«
»Aber Sie müssen sie nicht die ganze Zeit herumtragen. Wenn sie still ist, können Sie sie ruhig hinlegen. Man kann auch mal einen Kaffee trinken, vor allem, wenn man nicht stillt«, sagte sie mit einem schüchternen Lächeln.
Michael setzte sich. Ihm zitterten die Arme. Wo sollte er sie denn hinlegen? Daran hatte er nicht gedacht. Er war nicht bereit, sie wieder in den Karton zu legen. Er sah in das schmale, asketische Gesicht der großen Frau, betrachtete die Augen, die in diesem Augenblick aussahen, als seien sie in eine grünlich-blaue Strenge getaucht, das Grübchen, das er mit einemmal auf dem Wangenknochen und nicht in der Mitte der Wange entdeckte. Er räusperte sich laut. Schließ lich würde er eh einen Komplizen brauchen. Allein würde er es nicht schaffen, sagte er sich. Nicht einmal die paar Tage. Ober die nächsten Tage wollte er jetzt nicht nachdenken. Eine kleine Stimme in ihm meldete sich und fragte, um wel che nächsten Tage es hier ging. Ob er durchgedreht war, oder was. Was willst du, verlangte sie. Er drehte ihr die Luft ab und konzentrierte sich erneut auf die Frage, ob er sich tat sächlich von der Frau helfen lassen sollte. Aber ihr Ehemann.
»Ihr Ehemann«, sagte er unsicher. Ihr Lächeln erlosch.
»Einen Ehemann gibt es nicht.« Ihre Lippen waren geschürzt, was ihr ein beinahe trotziges Aussehen verlieh.
»Es gibt keinen?« fragte er verwirrt. Er war sich mit dem Bärtigen ganz sicher gewesen. »Ich bin nicht verheiratet«, sagte sie, diesmal mit Gelassenheit. »Es ist nicht so ungewöhnlich. Sie haben selbst gesagt, Ihre Nichte sei eine alleinerziehende Mutter. Es scheint eine Mode zu sein, wenn nicht sogar eine Seuche«, fügte sie hinzu, und der Hauch eines Grübchens tauchte kurz auf und verschwand.
»Nein«, entschuldigte er sich. »Ich dachte nur ... ich sah ... es schien mir ... ich habe einen Mann mit Bart gesehen ...«
»Einen Mann mit Bart oder einen unrasierten Mann? Wenn es ein bärtiger Mann war, war es mein jüngerer Bru der, der unrasierte war mein ältester Bruder, aber den hät ten Sie vielleicht erkannt. Er war zweimal hier.« All diese Worte hatte sie hastig ausgespuckt, als wollte sie etwas, was sie bedrückte, sofort wieder vertreiben.
»Ein kurzer Bart, nicht rasiert, ich weiß es nicht mehr genau, warum sollte ich Ihren großen Bruder erkannt haben?«
»Es ist kein richtiger Bart, sondern eher eine schlechte Rasur. Das ist jetzt modern. Sie tragen doch auch ...«
»Ich habe nur Urlaub«, korrigierte er sie und ließ seine Hand über seine drei Tage alten Stoppeln gleiten. »Ich habe ihn nicht erkannt. Müßte ich ihn kennen?«
»Mein ältester Bruder ist ziemlich berühmt. Theo. Haben Sie noch nie von Theo van Gelden gehört?«
»Der Dirigent?«
»Ja.«
»Das ist Ihr Bruder?«
»Mein ältester Bruder.«
»Van Gelden, das ist ein holländischer Name.«
»Unsere Eltern kommen aus Holland.«
»Und Sie haben noch einen Bruder? Ist das der Geiger? Auch ein Musiker?« fragte er sie, während er in seinem Gedächtnis nach Zeitungsartikeln und Gerüchten kramte.
»Ja. Auch mein zweiter Bruder, Gabriel, Gabi, der mit dem Bart«, seufzte sie. »Auf jeden Fall haben Sie hier weit und breit keinen Ehemann gesehen«, sagte sie lächelnd, und verlegen fügte sie hinzu: »Ich bin gekommen, um Sie zu mir einzuladen. Vielleicht würden die Kleinen schlafen, und wir könnten zur Feier ... zur Feier des neuen Jahres eine Tasse Kaffee zusammen trinken, alles Gute zum neuen Jahr ... Entschuldigung«, grinste sie. »Wie heißen Sie?«
»Michael. Wie kommt es, daß Sie nicht bei einer Familienfeier sind?«
»Meine beiden Brüder sind zur Zeit im Ausland. Mein Vater lebt schon seit ein paar Jahren allein. Er ist krank und allein und interessiert sich für nichts mehr. Ich habe ihn heute schon besucht. Wir waren bei ihm«, verteidigte sie sich. »Und einfach so zu jemandem zu gehen ... hatte ich keine Lust. Ich dachte nur, daß
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