Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ochajon 04 - Das Lied der Koenige

Ochajon 04 - Das Lied der Koenige

Titel: Ochajon 04 - Das Lied der Koenige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
Vom Netzwerk:
»Es war nicht so hundertprozentig. Er hat mich angewiesen, vom Stuhl aufzustehen, und ich habe meine ganze Willenskraft mobilisiert, um mich zu verweigern. Ich war noch jung«, fügte sie entschuldigend hinzu, »und ein bißchen albern; und sehr stur.« Sie drückte die Hand gegen die Stirn und bewegte die Finger. »Bis heute«, gestand sie, »beschäftigt es mich manchmal. Nachts, wenn ich nicht schlafen kann, nach einem Alptraum, denke ich plötzlich: Was wäre damals dabeigewesen zu gehorchen. Als ob etwas Belastendes zurückgeblieben wäre, etwas Ungelöstes.«
    Er ertappte sich dabei, wie er sie verblüfft ansah.
    »Es stimmt«, versicherte sie. »Es ist die Wahrheit.« Dann faßte sie sich, als bereue sie ihre Offenheit, und kehrte zu dem belehrenden Vortrag zurück: »Man muß wissen, daß ohne einen zusätzlichen Faktor nichts funktioniert. Dieser zusätzliche Faktor ist die Adaption der Sinne.« Er lehnte sich gegen die Wand und legte seine Hände auf die rötliche Resopalschicht der schmalen Bank. »Die Menschen funktionieren so, daß jeder Reiz, der sie umgibt, in ihnen eine ›orienting response‹ auslöst. Selbst die Reaktion auf eine Melodie im Radio – man erwartet eine bestimmte Melodie, und es kommt eine andere –, ist eine Reaktion auf etwas Neues.«
    »Das kenne ich vom Lügendetektor«, sagte Michael und streckte die Beine aus. Aber Ruth Maschiach weigerte sich, ihren Redefluß zu unterbrechen.
    »Deshalb braucht man einen ruhigen Raum. Man achtet darauf, daß die Geräusche monoton sind. Am besten geeignet ist ein Labor mit Schallisolierung.« Er sah in Richtung der schweren Tür. »Es darf nicht passieren, daß plötzlich eine Nachbarin aus dem Fenster nach ›Mojsche‹ ruft.«
    »Ich kenne es vom Lügendetektor«, versuchte er erneut einzuwenden und tadelte sofort sein Bedürfnis, kompetent zu klingen.
    »Bei der Tiefenhypnose ist es anders«, präzisierte sie. »Da haben die Geräusche keine Bedeutung mehr. Aber am Anfang muß man dafür sorgen, daß alle Sinne nur monotone Reize empfangen. Das ist das wichtigste. Man kann auch niemanden in der hypnotischen Suggestion zu irgend etwas zwingen. Ein Hypnotisierter kann eine Knoblauchzehe essen und denken ...«
    In diesem Moment öffnete sich die Tür, und der Psychiater machte Michael ein Zeichen, in das Behandlungszimmer zu kommen. Ruth Maschiach erhob sich eilig.
    »Nur er«, sagte der Arzt.
    Er saß eine ganze Weile vor dem Schreibtisch neben Nita, deren gelblichgraue Haut entspannter wirkte, als habe sie sich allein durch die Möglichkeit beruhigt, in sicheren Hän den zu sein, die sie vor sich selbst schützen würden. Dr. Schumer erteilte Michael eine kurze Zusammenfassung ihres Gesprächs. Zurückhaltend trug er die Fakten vor, die Nita geschildert hatte, und ihren Wunsch, hinter die Wahrheit zu kommen. Es schien Michael, daß er die Worte »ihren Wunsch, hinter die Wahrheit zu kommen« mit Unwillen artikulierte. Aber sein verschlossenes Gesicht bot keinerlei Hinweise. Dann erwähnte er auch ihre Bitte, Michael solle anwesend sein. Er sprach über das, was üblich war und was nicht, erwähnte Datenschutzprobleme und bemerkte etwas über die verwischten Grenzen zwischen Michaels beruflichem Interesse und seiner Beziehung zu Nita.
    »Eine äußerst prekäre Situation«, sagte er und kniff die Lippen zusammen. Er sah Nita an, die auf ihrem Platz kleiner zu werden schien. »Ich habe Ruth gebeten, draußen zu warten«, sagte er schließlich. »Vielleicht warten Sie auch ein wenig draußen«, wies er Nita an, und Michael verfolgte die abrupten Bewegungen, mit denen sie sich erhob, zur Tür ging und ihre Finger in ihren weiten Blumenrock krallte. Sie stieß die schwere Tür zu, als habe sie ihre Bewegungen nicht unter Kontrolle. Als er mit dem Arzt allein war, war Mi chaels Körper gespannt, wie um jede erneute Frage nach sei ner persönlichen Verstrickung abzuschmettern, aber Dr. Schumer übte keinen Druck aus. Einmal sagte er: »Ich sehe, daß Sie sich überdies sehr nahestehen.« Michael hielt sich zurück, um nicht zu fragen, worauf er mit »überdies« hinauswollte – aber vor allem sprach er von Nita, über ihre Fixierung auf die Hypnose als eine Art Erlösung.
    »Es ist keine Lösung für wahre Probleme«, warnte der Arzt. »Ich habe es ihr gesagt, und ich habe ihr auch erklärt, was auch Sie wissen müssen, daß Verdrängen ein Schutzmechanismus ist, der mitunter wünschenswert, ja sogar notwendig ist. Es könnten schlimme Dinge

Weitere Kostenlose Bücher