Ochajon 04 - Das Lied der Koenige
aller Art an die Oberfläche dringen. Ich muß Ihnen auch sagen«, sagte er und räusperte sich, »daß ich nicht den Eindruck habe, daß sie an einer Persönlichkeitsspaltung leidet. Obwohl sie mir Dinge erklärt hat, die sie in einem amerikanischen Film gesehen hat, an den ich mich nicht erinnere. Ich kann aber ihre Angst in Hinblick auf die besonderen, wirklich schrecklichen Umstände verstehen. Auf jeden Fall müssen Sie zur Kenntnis nehmen ...« Sein Ton wurde streng und autoritär, sein schmales, auffälliges Gesicht hart und entschlossen. Dr. Schumers helle Augen standen eng beieinander, und seine Stirn war niedrig, so daß es schien, daß das dichte Haar ihm ins Gesicht wuchs. »Sollte auch nur für einen Augenblick Nitas Wohlergehen mit Ihrem Wunsch nach polizeilichen Erkenntnissen korrelieren«, er betonte das Wort Ihrem , »wird Nitas Wohlergehen den Ausschlag geben. Der polizeiliche Aspekt interessiert mich nicht, und ich weigere mich, unter diesem Gesichtspunkt zu kooperieren. Das muß klar sein. Ja?«
Michael nickte.
»Sie werden sich selbst vergewissern können, wenn die Themen zu problematisch werden, wenn Nitas Bewußtsein sie als verbotenes Material erkennt, kann sie mit Alarmsignalen reagieren, denn unter Hypnose kann es zu einem starken inneren Konflikt kommen. Man könnte dadurch eine starke Hysterie oder sogar eine Psychose auslösen. Ich sage es Ihnen vorab: Tritt ein solcher Fall ein, breche ich ab. Ich bin nicht bereit, Nita zu gefährden, und auch nicht mich selbst. Es ist ein sehr gefährliches Unterfangen, Verdrängtes plötzlich hochzuholen. Verstehen Sie das?«
Michael nickte.
»Sie hat gebeten, daß Sie dabei sind, wenn ich sie hypnotisiere. Vielleicht ist das gar keine schlechte Idee, dann können Sie mir mit den Fragen helfen, schließlich weiß ich sehr wenig über die Umstände und über sie.«
Michael nickte.
»Das wichtigste ist, zumindest bis sie sich im Zustand tiefer Trance befindet, daß Sie absolut still sind«, sagte er, nachdem er aufgestanden war und seine Hand auf dem Türgriff ruhte. »Ihre Anwesenheit darf keinerlei Reiz schaf fen. Sie verstehen das sicherlich. « Ohne auf eine Antwort zu warten, öffnete er die Tür und bat Nita herein.
Jetzt saß sie in dem tiefen Sessel, ihre Augen waren geschlossen. Im Raum herrschte völlige Stille. Michaels Blick folgte dem Arm in dem weißen Ärmel, der den Anhänger auf die Ecke des schweren Schreibtisches legte. Er sah den Ausdruck der Entspannung, der sich auf Nitas Gesicht legte, den Mund, der ein wenig aufklaffte, und das Leid, das aus ihren Zügen verflog. Obwohl er sehr erwartungsvoll war und obwohl er es bewußt vermieden hatte, das Pendeln des glitzernden Anhängers zu verfolgen, durchfuhr ihn ein Gedanke, dem der Wunsch folgte, daß die Anweisungen des Arztes auch auf ihn eine Wirkung gehabt haben könnten. Vielleicht war er selbst hypnotisiert, verhext, ohne es zu wissen. Der Arzt setzte sich in den Stuhl vor Nita und wies sie an, die Augen zu öffnen. Michael blieb stehen, lehnt sich gegen die Wand und betrachtete die offenen Augen. Jetzt waren sie dunkelgrau. Wie tiefe Seen sahen sie aus. Es fiel ihm schwer zu glauben, daß sie schlief, während sie vollkommen wach aussah. Ein paar Mal wiederholte der Arzt die Aussage: »Sie fühlen sich entspannt, geborgen.« Ihre Arme ruhten locker auf der Holzlehne des dunklen Sessels.
»Sie sind in einer Konzertprobe«, wies die Stimme des Hypnotiseurs sie an. »Bei der Probe für das Doppelkonzert von Brahms. Sie sind noch am Anfang. Sie wollen spielen.«
Nita zeigte ein breites Lächeln, das die dunklen Grenzen um die grauen Augen verwischte. Sie strahlten plötzlich. Sie spreizte die Knie, und Sekunden vergingen, bis Michael ver stand, daß sie sich das Cello vorstellte.
»Theo unterbricht Sie zum ersten Mal«, sagte der Psychiater, der das Blatt studierte, auf dem er die Verkettung der Ereignisse nach Michaels konzentrierter Rekonstruktion notiert hatte.
Sie zog die Hand von dem vermeintlichen Cello und streckte sie in die Luft, als hielte sie den Bogen. »Wie oft un terbricht er die Probe?« fragte Dr. Schumer.
»Oft«, kicherte sie. »Er legt sich mit allen an, auch mit Gabi. Es geht um das Tempo. Wie immer. « Wieder legte sich ein Lächeln auf ihr Gesicht.
»Gefällt es Ihnen, wenn die beiden streiten?« insistierte der Arzt.
»Nein.« Sie zitterte. »Ich hasse es.«
»Aber etwas daran gefällt Ihnen doch.«
»Wir arbeiten zusammen. Wir drei. Wie damals.
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