Ochajon 04 - Das Lied der Koenige
du, es könnte ein Wunder geschehen und sich morgen oder übermorgen alles lösen?« Schorer neigte den Kopf.
Michael nickte und versank in dem Sessel. Sein Kopf ruhte zwischen seinen Schultern, und seine Hände hielten die Sessellehnen.
»Selbst das hat seinen Preis. Selbst ein oder zwei Tage.«
»Was heißt hier Preis ?« verlangte Michael zu wissen.
»Du kannst nicht mit ihr allein bleiben.«
»Mit Nita? Sie kann sowieso nicht allein bleiben. Ständig ist jemand bei ihr, ich habe es dir gesagt ...«
»Nein, mein Lieber«, sagte Schorer mit harter Stimme. »Ich rede von einer Trennung, von Distanz, von solchen Dingen.«
»Ich dachte, du bist glücklich, daß ich ... du hast behauptet, daß ich sie liebe. Das waren deine eigenen Worte«,
lehnte Michael sich auf. Bestürzung – keine Freude – bemächtigte sich seiner, bei Schorers unerwartetem Verständnis. Gerade dieses Verständnis störte ihn erheblich.
»Du mußt dich aus dem Fall ausklinken«, bestimmte Schorer schnell, »und auch diese Sache mit dem Baby zu einem Abschluß bringen. Dieser Wahnsinn muß ein Ende haben«, sagte Schorer und sah geradeaus, als ob er kein Wort verstanden hätte. »Aber ich muß dir leider sagen«, gestand er und räusperte sich, »daß ohnehin schon etwas am Lau fen ist.«
»Was heißt, etwas ist am Laufen?!« Michael spürte, wie das Blut aus seinem Gesicht und aus seinen Armen wich, als würde es seinen Körper verlassen. Er wurde von einer großen Schwäche übermannt. Seine Fingerspitzen brannten, als glitten elektrische Ströme durch sie hindurch.
»Ich muß dir jetzt sagen«, sagte Schorer und sah mit einem Blick in seine Augen, der sanfter und vielleicht sogar eine Spur offener und väterlich war als sonst, »daß das Kind gar nicht mehr bei dir ist.«
»Wo ist sie?« hörte Michael sich mit einer fremden Stimme sagen, die klang, als ob sie aus der Entfernung kam und nicht mit seinem Körper, seinen Stimmbändern, verbunden war.
»Ruth Maschiach hat sie zu einer Pflegefamilie gebracht. Sie hat einen guten Platz für sie gefunden«, versprach Schorer und faßte nach Michaels Arm. »Sie sagte auch, daß du sie sehen kannst, wenn du es willst.«
»Wer kann so etwas tun?!« sagte Michael. Er spürte den Kloß in seinem Hals und meinte, gleich losweinen zu müssen. »Wie könnt ihr es wagen, mir so etwa anzutun, ohne ... ohne ...«
Geraume Zeit schwappten Wogen wortloser Gefühle über ihm zusammen. Bilder trudelten vor seinen Augen. Das Allerschlimmste war eingetroffen, versuchte er sich zu sagen, um den Schwindel zum Anhalten zu bringen, die konträ ren Gefühle. Vielleicht war es nicht nur schlimm, sagte eine der inneren Stimmen, vielleicht hatte es auch etwas Gutes. Leere und Ruhe, zum Preis des Verzichtes. Man mußte verzichten. Der Gedanke, er könnte es schaffen, war wahrhaftig überheblich und verrückt. Wie sollte es denn funktionieren. Schorer hatte recht. Wie trostlos würde es für ihn sein, vor einer leeren Wiege zu stehen. Vor einem Nichts. Vor dem Nichts in seinem Innern, präzisierte die innere Stimme, die absolute Aufrichtigkeit verlangte. Das Bild eines verwaisten bläulichen Kleidungsstücks. Kein Rennen mehr, um das Baby aufzunehmen. Man mußte wirklich verzichten. So war es richtig. Zu der alten neuen Einsamkeit zurückkehren, vertraut, aber nun anders. Es gab in dieser Welt keine plötzliche, wundersame Erlösung. Es konnte nicht sein, daß es sie gab. Es war nicht richtig, sich auf ein Baby zu konzentrieren. Er verspürte die Stiche einer lähmend großen Angst. Sie riefen die Frage in ihm wach, wie er von nun an leben sollte, wenn keine Erlösung möglich war. Aber eine andere Stimme, ganz und gar nicht schwach, sprach nun. Mit sicherer Ruhe sprach sie in seinem Innern. Du wirst es überstehen, denn du hast keine Wahl. Das ist die Wahrheit, die dabei letztendlich herauskommt. Schorer hat recht, man kann Babys wahrhaftig nicht auf der Straße auflesen. In dieser Wahrheit lag etwas Richtiges. Und da war auch noch Nita. Mit ihr konnte man vielleicht etwas aufbauen. Sie könnte ... Wenn ihr Gesicht in plötzlicher Freude erleuchtete ... Aber warum? stürmte in ihm eine neue Brandung. Warum sollte er denken, daß es unmöglich war? Warum sollte er denken, daß es nicht zu schaffen war? Wer waren die anderen, die über das Wohlergehen des Kindes Beschlüs se faßten ... Was wußten sie schon. Er würde es nicht zu lassen. Man mußte kämpfen. Denn vielleicht gab es sie doch, die wundersame,
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