Ochajon 04 - Das Lied der Koenige
kennengelernt?«
»Niemals«, sagte sie traurig. »Nicht alle sind so. Es gibt Schüler, welche reden über ihr Leben, Familie, alles. Gabriel war sehr diskret mit Privatleben. Es gab große Nähe, aber nicht verbal. Man sprach über Musik, über Leben über haupt, aber nicht über sein Leben. Sogar die Frau, die er hei ratete, habe ich nie gesehen. Gerade Theo ist wie Kind. Viel offener. Für Theo ist sehr wichtig, daß er geliebt wird. Er hat viel ... viel Libido, wie man sagt.«
»Wagner«, dachte Michael laut.
»Wagner«, stimmte sie zu. Nach wenigen Sekunden öffnete sie den Mund: »Ich habe gehört ...«, sagte sie zögernd, »ich habe gehört, er will Bayreuth nach Israel bringen. Ein Festival. Ausgerechnet Wagner. Ich denke, es richtet sich ge gen seinen Vater.«
»Gut«, erinnerte Michael. »Sein Vater lebt nicht mehr.«
Sie seufzte und schüttelte sich. »So barbarisch«, sagte sie. »So beängstigend. Für ein Gemälde? Was ich sage, es ist bes ser, man hat nichts, hier«, sie breitete die Arme aus, »an was fehlt es mir? An nichts, aber es gibt auch nicht zuviel. Es gibt nichts, was man hier stehlen kann.«
»Kann man von einer schwierigen Beziehung zwischen Theo und seinem Vater sprechen?«
»Nein«, sagte sie mit Gewißheit. »Ich kannte Felix van Gelden viele Jahre. Er hat sich sehr um Theo bemüht. Und Theo – hat ihn auch geliebt. Aber er war nicht sein Lieblingssohn. Und Theo, wenn ich richtig verstehe«, sagte sie zögernd, »hat nicht auf seinen Platz verzichtet. Es gab Span nungen.«
»Hätte er ihn umbringen können?«
»Wer?« staunte sie.
»Theo seinen Vater?«
»Ach!« winkte sie ab. »Auf gar keinen Fall. Das gibt es nicht.« Sie legte ihre Beine wieder auf den Schemel und sah Michael prüfend an.
»Aber die Sache mit Wagner«, beharrte Michael.
»Gut, es war nicht nur Vater«, erklärte sie, »es ist viel komplexer. Es ist auch Musik. Es ist auch Credo. Musikalisches Credo. Für den Vater – Wagnerboykott. Aber hier, auch für mich ist Wagner nicht so. Und die ganze Sache, daß man in Israel Wagner nicht spielt! Man hat hier schon Wagner gespielt mit Toscanini, 1936. Ich war 1936 nicht hier, aber ich habe davon gehört. Später gab es Assoziationen mit Wagner. Mitglieder des Israelischen Philharmonischen Orchesters hatten Assoziationen. Nicht mit Liszt«, sagte sie mit verzerrtem Mund. »Sie haben keine Assoziation mit Liszt, dessen Musik man bei Siegesmeldungen während des Krieges in Deutschland gespielt hat. Aber ausgerechnet Wagner, was soll man machen.« Sie breitete die Arme aus. »Solange Menschen leben, die es stört, kann man Wagner nicht spielen. Aber er war ein großer, fantastischer Musiker, hundertprozentig. Wieder komme ich zurück auf Thomas Mann.« Sie schien sich zu entschuldigen. »Es gibt etwas, das er darüber geschrieben hat. Kennen Sie es?«
Er schüttelte den Kopf.
»Es ist Rede, die er hielt für fünfzigsten Todestag von Wagner, 1933 in München. Ich erinnere mich, denn ich war dreiunddreißig in München. Es war im Februar. Ich war an der Universität von München. Ich habe dort Solokonzert gegeben«, seufzte sie, »und ich bin eilig geflohen. Es war schrecklich.«
»Die Rede?«
»Nein«, erschrak sie, »die Zeiten dort in München. Ich bin froh, daß ich so alt bin«, erklärte sie, »damals, 1933, war schrecklich. Ich hatte alles im Leben«, sagte sie voll nachdenklicher Trauer, umfaßte ihre Knie und reckte sich, als müsse sie sich zur Ordnung rufen. »Aber ich habe in meinem Leben auch Heifetz spielen und Thomas Mann sprechen gehört. Er sprach über ›Leiden und Größe Richard Wagners‹«, sagte sie in deutscher Sprache, »später erschien dieser Vortrag in Sammelband. Rede ist nicht wirklich nur über Musik von Wagner, sondern generell über 19. Jahrhundert. Das war ein Erlebnis für ganzes Leben«, sie schloß ihre Augen für einen Moment, und er, vor ihr, verengte die seinen in der Bemühung, sie sich in München vorzustel len, ein junges Mädchen, eine Geigerin, die Thomas Mann lauschte.
»Nicht wie heute«, seufzte sie, ihre Lippen bebten. »Ein großer Schriftsteller, damals, sprach über das 19. Jahrhundert, kannte sich aus mit französischen Impressionisten, mit russischem Roman und deutscher Musik. Er sagte, 19. Jahrhundert war ›Wald von großen Männern‹. Wer redet heute so? Es war keine Schande zu sagen, daß Wagner wollte, daß Kunst rein sein soll. Man braucht nicht nur Klugheit, um so etwas über Wagner zu sagen.« Sie
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