Ochajon 04 - Das Lied der Koenige
seufzte. »Was ist heute noch groß oder gigantisch, gibt es heute einen Toscanini, einen Thomas Mann? Er sprach dort über Komplex von Musik, Mythos und Psychologie. Kennen Sie Musik von Wagner? ›Parsifal‹? Den ›Ring‹?«
Er räusperte sich.
»Das ist es. Hier kennt man ihn nicht. Wie soll man? « Ein schlitzohriges Strahlen erleuchtete ihre Augen, als sie sagte: »Ich glaube, Boykott ist jetzt zu Ende. In letzter Zeit gibt es immer wieder Wagner im Radio. Auch Barenboim nimmt jetzt in Bayreuth auf. Aber ganz im stillen. Ja?« Sie zog an der Andeutung eines Doppelkinns, das unter ihrem Kinn ent stand, wenn sie den Kopf senkte: »Boykott von Wagner kommt für einen Musiker nicht in Frage. Und für Theo war Erotik in Musik von Wagner, was Wagner über Liebe und Sex dachte – wie für Schopenhauer –, wichtig und ein Komplex von ›Parsifal‹. Für Theo sind diese Dinge von Belang, aus musikalischer Sicht. Denn Thomas Mann sagte auch, über antisemitische Theorie von Wagner, unmißverständlich, daß sie Unsinn ist, daß man sie nicht ernst nehmen kann. Aber seine Musik ist andere Geschichte. Und das versteht Theo«, sagte sie anerkennend, beinahe überrascht. »Auch wegen seiner Persönlichkeit, die zu Wagner paßt«, beeilte sie sich hinzuzufügen. »Man kann Wagner nicht boykottieren. Man kann nicht so tun, als gäbe es auf der Welt keine Musik wie Götterdämmerung in ›Siegfried‹ oder eine Chromatik wie in ›Tristan‹. Und ich höre ihn jetzt auch im Radio. Es gibt keinen Boykott mehr«, ihre Lippen bebten, »nach fünfzig Jahren menschlicher Erinnerung ... sind die Menschen nicht mehr, man vergißt schon. Das ist gut, und das ist schlecht. Ich denke, wenn Karajan noch am Leben wäre, würde man ihm jetzt erlauben, nach Jerusalem zu kommen. Die Berliner Philharmoniker waren schon hier. Sie spielten in Jerusalem. Noch nicht Wagner. Aber es ist noch nicht lange her, da wollte man hier keinen Karajan. Man kann es verstehen. Aber wenn man so viele Jahre lebt wie ich, fällt es schwer, nicht zynisch zu sein.«
»Und für Gabriel?« Er hörte, wie er ihre besondere Betonung seines Namens übernahm.
»Ach!« Sie hob den Arm und lächelte. »Für Gabriel war Wagner nicht interessant. Das heißt, er kannte ihn und las Partituren, hundertprozentig kannte er ihn, aber er war nichts für ihn. Außerdem kam es wegen Vater nicht in Frage. Er hat sich an Vergangenheit orientiert. Aber er ist nur scheinbar zurückgegangen«, versicherte sie, »man kann Weg von ihm auch ganz anders sehen.«
»Vielleicht sind Sie bereit, wenn Ihre Zeit es erlaubt«, hörte er sich zögernd fragen, »mir diese Sache mit der historischen Musik zu erklären? Die Besessenheit Gabriel van Geldens von der alten Musik?«
Sie nickte energisch. »Warum nicht?« fragte sie, als ihr einfiel: »Aber Juwal wartet doch. Haben wir jetzt Zeit?«
»Ein wenig«, bettelte er und brachte die Angst, die den ganzen Morgen an ihm nagte, zum Schweigen. Wenn er nur telefonieren könnte, um festzustellen, daß sie wohlbehalten angekommen war. Daß ihr keiner ein Haar gekrümmt hatte. Jetzt anzurufen würde bedeuten, den richtigen Moment mit Dora Sackheim zu verpassen, die jede Sekunde aufhören konnte zu sprechen.
Sie stellte vorsichtig ihre Füße auf den Fußboden vor dem Bett, stützte sich mit ihren Händen mühevoll zu beiden Seiten ab, damit der dünne Leib Halt fand. »Es ist nicht so einfach, ich werde ein wenig ausholen. Ja?« Und ohne auf eine Bestätigung zu warten, begann sie zu reden.
In diesem Gefühl der großen Leere, das ihn übermannt hatte und nicht mehr losließ, seit Schorer ihm von dem Baby erzählt hatte, waren der Redefluß Dora Sackheims, die Notwendigkeit, sich sehr zu konzentrieren, die Möglichkeit, etwas von ihr zu erfahren, eine Art Ablenkung. Er hatte Sehnsucht, Sehnsucht nach ihrer Stimme, ihren Gesten, nach ihrer Präsenz; er wollte ihre Haut berühren, sie umarmen. Die ganze Zeit quälte ihn die Erkenntnis, daß ihre Zeit so kurz und kostbar war.
Dora Sackheims Stimme war jetzt leiser, fast erstickt, und sie rauchte weiter, eine nach der anderen, die dünnen Zigarren aus der gelblichen Blechdose mit dem Bild des Panthers. »Man muß bedenken«, sagte sie und glättete den Saum des engen, langen Kleides, damit es die Bandagen be deckte, »daß es nicht jetzt erst beginnt. Ganze Sache ist Kor rektur. Korrektur von großer Fehleinschätzung, von Tatsache, daß ganze vorklassische Musik in Vergessenheit geraten war.
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