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Ochajon 04 - Das Lied der Koenige

Ochajon 04 - Das Lied der Koenige

Titel: Ochajon 04 - Das Lied der Koenige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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nicht mehr lange«, versicherte Michael, »noch ein paar Minuten, dann fahren wir.«
    Sie setzte sich wieder auf die Bettkante. »Das war ein Tril ler, eine Verzierung. Aber was ist das überhaupt, eine Verzierung?« Sie beugte sich nach vorne und zog die dünnen Augenbrauen zusammen. »Eigentlich ist die Wahrheit, daß geschriebene Barockmusik nur Gerüst für Improvisation ist. Das ist, was Verzierung bedeutet. Darum muß man von neuem Technik von Improvisation anwenden, denn was geschrieben steht, ist nur Skelett.« Die letzten Worte sagte sie triumphierend, als eröffnete sie jemandem etwas vollkommen Neues.
    Er nickte.
    »Jetzt ist es so: Manchmal gibt es so eine Theorie, manch mal eine andere. Manche Menschen glauben, daß man je den Part zweimal spielen muß. Beim ersten Mal ohne, beim zweiten Mal mit Verzierungen. Zum Beispiel Glenn Gould. Er hat Part nur einmal gespielt. Und Andrâs Schiff zweimal; einmal ohne, einmal mit Verzierungen. Wunderbar, wirklich wunderbar. Sie wissen, Bach hat ein Lexikon geschrieben zu einem Teil von Stücken. Genau wie richtiges Lexi kon. Lexikon von Verzierungen. Und es gibt Stellen, wo sein Sohn Verzierungen hinzugefügt hat. Sie sehen es auch in Manuskript von Mozart«, sie neigte den Kopf, trällerte und klopfte vor einem der Töne leicht auf ihre Schenkel. »So ist Mozart«, erklärte sie. »Und bei Bach ist es so«, wieder sang sie mit einer leisen, heiseren Stimme, klopfte auf ihre Schen kel, um zwei zusätzliche Schläge zu demonstrieren.
    »Zählt man Bach nicht zu Klassik?« wagte er zu fra gen.
    Für einen Moment wurde sie still. Sie sah ihn an mit etwas, das er als Enttäuschung interpretierte. »Nein, nein. Klassische Periode in Musik beginnt mit Haydn. Die Zeit davor ist Barock. Aber für mich ist Bach romantisch.«
    »Ich wußte nicht, daß die Klassik in der Musik mit Haydn beginnt«, sagte er verlegen, beinahe gekränkt. »Eigentlich wußte ich nichts über Barockmusik.«
    »Es ist sehr komplizierte Sache, was Barock ist, wie man ihn spielen soll, wie er früher tatsächlich war. Sogar, wenn man wirklich denkt, daß man spielen sollte wie früher. Auch darüber gibt es heute große Diskussion auf der Welt.«
    »Und Gabriel hat diese Richtung vertreten«, faßte Michael zusammen.
    Sie nickte energisch. »Aber das ist nur Beginn«, erklärte sie. »Es gibt Stellen bei Mozart, wenn man sie spielt wie Ba rock, ändert man völlig Verständnis von Tempo und Verzierungen. Auch Quantität zählt. Zum Beispiel der Compositeur Rameau, ja?«
    »Ja, ja«, beeilte er sich zu bestätigen.
    »Bei ihm sind Verzierungen Sache für sich. Wie viele Verzierungen! Fast alles ist Verzierung. Als erstes – das Tempo. Das ist das wichtigste«, faßte sie zusammen. Sie verweilte noch einen Moment und fügte hinzu: »Es gibt noch andere Dinge, wie Bau von Instrument und Wahl von Instrument. Wenn man Christa Ludwig sagen würde, sie soll mit weni ger gewaltiger Stimme singen wie, sagen wir, Emma Kirkby, wird man sehen, Christa Ludwig kann es nicht. Ihre Stimme ist Bombe neben Kirkby, ja? Wie soll man sie in kleinen Raum stellen. Wenn man Schwarzkopf gehört hat, unter Leitung von Klemperer in Matthäus-Passion – furchtbar. Alles muß wirklich kleiner sein.«
    »Und die Instrumente?«
    »Sehen Sie«, sagte sie und stützte sich auf ihre Hände, die sie zu ihren Seiten ablegte, »bei Bach ist es ganz und gar nicht klar, ob forte oder piano , und man spricht von vollem Ton oder leerem Ton. Auch konnten die meisten Instrumente (außer Cello und Geige) kein forte oder piano erzeugen. Ein Klavier kann es. Deshalb ist sein Name Pianoforte. Das wissen Sie, ja?« fragte sie mißtrauisch.
    Er räusperte sich.
    »Aber das Ohr in jener Zeit hat gar nicht auf ein crescendo gewartet. Es war so bizarr, so sonderbar.«
    »Und seit den fünfziger Jahren, wie hat sich die alte Musik entwickelt?«
    »Vierte Generation, Generation von siebziger Jahren, machte alles extremer. Sie begannen an größerem Repertoire als Bach und Händel zu arbeiten und gingen auch zu klassischer Musik über. Auch mit Haydn und Mozart hat man es so gemacht.«
    »Hat Gabriel es auch so gemacht?«
    »Manchmal noch mehr, denn er war schon fünfte Generation«, sagte sie mit einer distanzierten Armbewegung. »Das sind die, die jetzt authentische Musik machen. Die wollen, daß jede Musik genau wie früher sein soll, auch romantische Musik, auch Brahms soll sein wie zu seiner Zeit, wie er es genau gemeint hatte.«
    »Wie? Wie kann

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