Ochajon 04 - Das Lied der Koenige
ein Kind in einem Süßwarenladen«, sagte Nita. Er drehte sich um und sah auf ihrem Gesicht ein gewisses Lächeln, während sie noch in der Küchentür stand.
»Gibt es ein System?« hörte er sich fragen. Er würde es ihr nicht sagen können. Er wußte nichts über sie. Er zog eine Packung »Noblesse« und eine Streichholzschachtel aus der Tasche und sah sie fragend an. Sie deutete auf einen blauen gläsernen Aschenbecher, der neben dem Telefon stand. »Ich kann die Kleine zu Ido schieben. Sie können auch die Tür zum Balkon aufmachen, oder wollen Sie vielleicht einen Moment warten, bis der Kaffee fertig ist?«
Er legte die Zigaretten auf das Kupfertischchen und kehrte zu dem Schrank zurück. Auf den oberen Borden drängten sich alte Schallplatten. Auf den übrigen Regalen standen in zwei Reihen hintereinander CDs, von denen er zwei herauszog. »Andante con variazione« von Haydn, die er nicht kannte. Er legte die CD auf den kleinen Tisch, als wollte er noch ein wenig darüber nachdenken, und betrachtete die zweite CD. Zuerst das Photo auf dem Cover. Es war Nita in einem schwarzen Abendkleid mit entblößten Schultern, die in der linken Hand ein Cello hielt und in der rechten einen Bogen. Sie war hübsch. Neben ihr, am Klavier, saß ein älterer, kahlköpfiger Mann. Dann fiel sein Blick auf die Schrift: »Nita van Gelden und Benjamin Thorp spielen die Sonate Arpeggione von Schubert.« Er nahm die CD, die zuletzt gespielt worden war, aus dem CD-Player, las die Auf schrift und legte sie vorsichtig zurück in ihre Kassette, in der noch zwei weitere CDs lagen. Es war die Oper »Wilhelm Tell«, die er nicht kannte. Dann legte er die Schubertsonate auf. Die Klänge, die nun den Raum erfüllten, erweckten in ihm die Hoffnung, es ihr doch sagen zu können. Erst ein paar Takte waren erklungen, als sie mit starrem Gesichtsausdruck im Raum stand. Sie biß sich auf die Lippen und streckte die Hand in Richtung Gerät, hielt jedoch in der Luft inne. »Tun Sie mir einen Gefallen«, sagte sie leise, »las sen Sie mich das abstellen.«
Er nickte, und sie unterbrach die Musik.
»Wo haben Sie die gefunden?« fragte sie, während sie die Aufnahme zurück in ihre Hülle legte. Er sah sie an und stotterte: »Sie hat dort gesteckt, im Schrank. Es war Zufall ...«
Ihre Lippen erschlafften. Sie war verlegen. »Ich habe sie schon lange nicht mehr gehört, fast zwei Jahre. Heute würde ich es ganz anders spielen«, entschuldigte sie sich. Aber das war keine Erklärung. Er schwieg. »Ich bringe jetzt den Kaffee«, sagte sie, ging in die Küche und kam sofort zurück. Sie trug ein großes Holztablett, auf dem eine Glaskanne, zwei Tassen, Milch und Zucker standen. Sie deponierte das Tablett auf dem Kupfertisch und starrte es an. Dennoch hatte er das starke Gefühl, daß sie mit ihren Gedanken abwesend war und nichts aufnahm.
»Löffel, es fehlen die Löffel«, sagte er.
Sie lächelte, als erwache sie. »Ich wußte, daß ich etwas vergessen habe«, entschuldigte sie sich und ging wieder in die Küche. Das Baby im Wagen rührte sich. Es wimmerte kurz und war wieder still. Nita stand über dem Wagen. In einer Hand hielt sie zwei kleine Löffel, die andere lag über dem Metallgriff des Kinderwagens, als mache sie Anstalten, das Baby zu schaukeln. Wie konnte er sie in sein Geheimnis einweihen? Sie war eine vollkommen fremde Frau, von der er nichts wußte. Selbst das Cello sagte nichts aus. Die »Arpeggione« half auch nicht weiter. »Man muß gleich reagieren, wenn es noch schwach ist. Es darf nicht mehr werden«, bestimmte sie.
»Was meinen Sie?«
»Das Schreien. Wenn man sie gleich ein wenig schaukelt, schlafen sie manchmal wieder ein. Manchmal auch nicht«, seufzte sie. Doch, er wußte sehr wohl etwas über sie. Die Tatsache, daß sie ihm fremd war, würde vielleicht sogar hilf reich sein. Er beobachtete die verhaltenen Gesten, mit de nen ihre Hände den Kaffee einschenkten. Es wunderte ihn, daß diese Hände, die die Äpfel in dünne Spalten geschnit ten hatten, die Hände waren, die die ersten Töne der »Arpeggione« auf der Aufnahme gespielt hatten, daß diese großen weißen Hände, die das zierliche Milchkännchen hielten und eine Zigarette aus seiner Schachtel zogen, Hände waren, die eine Schubertsonate spielen konnten.
Sie manövrierte vorsichtig den Kinderwagen durch den engen Flur in das Nebenzimmer, in dem ihr Sohn lag, setzte sich steif in den kleinen blauen Sessel und zündete die Zigarette an.
»Und ich habe noch
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