Ochajon 04 - Das Lied der Koenige
rannte er zu ihm und hätte gern einen Priester gerufen, aber Brahms wollte natürlich nichts davon hören. Seine Religiosität war etwas vollkommen anderes.« Sie sah die Zeichnung an und lächelte. »Und Dvořák hat immer gesagt, daß er keinen Menschen kannte, der so gütig und rein war wie Brahms. Er hat auch behauptet, daß Brahms an nichts glaubte, daß er keinen Bezug zu Gott hatte. Aber das stimmt nicht.«
»Was stimmt nicht?«
»Daß er keinen Bezug zu Gott hatte. Natürlich hatte er einen, nur nicht zu Dvořáks Gott«, murmelte sie und senkte den Kopf, als ob sie die kurzen Beine, die die Pedale des Kla viers traten, mustern wollte.
»Dann kam die erste Symphonie aus Ihrer Wohnung? Diese Musik ist nichts für Babys. Es ist eine Musik der Angst.«
Michael war verblüfft. »Wird sie immer so gesehen? Ist das allgemein bekannt?«
Sie zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Ich sehe es so.«
»Ich frage mich«, sagte er zurückhaltend, »ob Musik über haupt ein Gefühl wie Angst auslösen kann. Als ich mir die Symphonie angehört habe, sind mir tatsächlich die Flecken an der Decke und ähnliche Unannehmlichkeiten in den Sinn gekommen, denen ich sonst wenig Beachtung schenke. Könn te meine Kümmernis mit der Musik im Zusammenhang stehen?«
»Natürlich. Musik weckt doch Gefühle, nicht wahr?«
»Was macht die Symphonie von Brahms so beängstigend?«
»Nun, es gibt verschiedene Aspekte. Ich glaube, es sind zum einen die Einleitungsakkorde«, sie faßte ihre Locken zusammen, »und auch die Instrumentation. Die Symphonie ist in c-Moll geschrieben, einer an sich schon dunklen Moll Tonart, wissen Sie, als ob ...« Sie stockte. »Vor allem das c-Moll. Es hat schon fast Tradition. Es ist die Tonart, in der Beethovens Fünfte, sein drittes Klavierkonzert und Mozarts Klavierkonzert Nr. 24 geschrieben sind. Ja, sie ist wirklich düster.«
»Die Tonart ist es, die einem Angst einflößt?« überlegte er verwundert. »Das klingt nicht plausibel.«
»Gut, nicht nur die Tonart. Es kommt darauf an, was man mit ihr macht, wenn die Geigen und Celli aufsteigen und die Bläser absteigen, und wenn diese Spannung durch die Paukenschläge hinzukommt ...«
»Mozarts Klavierkonzert macht mir nicht angst.«
»Gut, es ist inzwischen zur Hintergrundmusik für alles Mögliche und Unmögliche degradiert worden. Aber in ei ner regulären Aufführung kann es einen auch heute noch sehr traurig stimmen.«
»Aber es macht einem nicht angst. Die Symphonie von Brahms allerdings ... Ich möchte einfach wissen, ob es für diese Dinge ... irgendein ... irgendein objektives Kriterium gibt«, entschuldigte er sich.
»Es ist nicht so sehr eine Frage der Harmonie. Eher eine Frage des Klangraums«, sagte sie nachdenklich. »Und Brahms gibt in der Einleitung ein forte vor, nicht einmal ein fortissimo . Doch das forte ist bedrückend und hat etwas Nervenaufreibendes. Und die Paukenschläge schaffen eine Spannung, die sich viele Takte lang nicht auflöst, und dann, in dem schnellen Teil, steigert sie sich sogar noch. Die Sym phonie ist voller beängstigender Ereignisse.«
»Was versteht man unter ›beängstigenden Ereignissen‹ in der Musik? Kann man Musik so interpretieren? Kann es beängstigende Ereignisse in einem Musikstück geben? Ohne Worte?«
»Natürlich«, sagte sie erstaunt. »Sie haben es doch selbst gehört. All die Passagen und ... die Themen, bis sie enden und wie sie enden, der Dialog zwischen den Instrumenten, all das sind Ereignisse, und sie können durchaus furchteinflößend sein.«
Er sah das Cello an. »Spielen Sie?« wagte er sich vor. »Ich meine, sind Sie Berufsmusikerin?«
Sie nickte, kaute auf der Unterlippe und ging in die Küche. »Sie können sich inzwischen eine Schallplatte aussuchen«, rief sie aus der Küche. »Sie sind im Schrank.« Der einzige Schrank im Raum war ein schweres, braunes Möbelstück, hoch und schmal, das in der Ecke zwischen Sofa und Wand stand, in der eine Glastür zum Balkon führte. Er stand auf und stellte sich vor den Schrank. Für einen Moment schaute er auf die breite Straße und die Hügel, die durch die Glastür schienen, als stelle er überrascht fest, daß die Aussicht identisch war mit dem Panorama, das er von seiner Wohnung aus kannte. Die braunen Schranktüren waren mit einer Schnitzerei verziert, zwei Engel schwebten um eine vergoldete Harfe. Zwei kupferne Hände, die einander hielten, verbanden die Türen miteinander. Er öffnete sie und stand vor vollen Regalen. »Wie
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