Ochajon 04 - Das Lied der Koenige
der nur zehn Jahre älter war als Nita, hatte ein rundes Gesicht und einen kurzen Bart, der seinen dicken, kurzen Hals berührte. Seine weißlich rosa Gesichtshaut war mit hellen Flecken übersät, die von den Wangen zur hohen Stirn kletterten, und auf seinem Hals prangte ein dunkles Mal, das wie ein Knutschfleck aussah. Er versuchte an der Schläfe ständig eine Haarlocke, zu bändigen, eine Mischung aus einem rötlichen Braun mit weißen Strähnen durchwoben. Auch seine Augen, klein und braun, lagen tief in ihren Höhlen. Sie blinzelten mehrmals, als er seine Arme verschränkte und eine Seite seines Mundes zu einer Art schiefem Lächeln verzog, als Nita sagte: »Und das ist mein kleiner großer Bruder, der sich einverstanden erklärt hat mitzumachen, damit wir alle zusammen spielen, obwohl er mit Theo in keinem Punkt übereinstimmt und selbst bald ein wichtiges Orchester gründen wird.« Sie hatte gekichert und Gabriel in den Arm gekniffen, der sanft auf ihre Handfläche geklopft hatte, wobei ein goldener Ring mit grünem Stein zu sehen war. Er war nur ein wenig größer als Nita und lugte hinter ihrer Schulter hervor. Er fragte: »Und wo ist Va ter? Sollte er nicht mit dir kommen? Hatten wir nicht abgemacht, daß du ihn abholst?«
»Nein«, sagte Nita und fuhr mit der Hand über seine Schulter. »Er hat heute morgen angerufen. Er hatte vergessen, daß er einen Zahnarzttermin hat, und wollte direkt von der Praxis mit einem Taxi kommen. Du hast dir schon wieder den Rücken mit Gips schmutzig gemacht. Ich habe dir schon hundertmal gesagt, du sollst dich nicht gegen diesen Pfeiler lehnen. Du bist ganz weiß.« Sie zog ihn von dem schmalen Pfeiler, ging um ihn herum und klopfte ihm heftig auf den Rücken. »Er wird schon noch kommen. Sei nicht so nervös. Es genügt, daß ich in Panik bin, nach einem Jahr ...«
»Du wirst wunderbar spielen«, hatte Gabriel zerstreut eingewendet. Er hatte seinem Bruder einen Blick zugeworfen, der sich begeistert mit einer Frau in Schwarz unterhielt – sie blies in das Mundstück der Oboe und hielt den Kor pus des Instruments in Händen. »Hör schon auf, dir Sorgen zu machen«, hatte Nita ihn zurechtgewiesen. »Du weißt, wie er es haßt, hinter der Bühne herumzulaufen, er wird direkt in den Saal gehen. Wir haben noch eine Viertelstunde.«
Gerade strich Gabriel über seinen runden, kleinen Bart und sah von seinem Platz im vorderen Teil der Bühne zu dem leeren Platz, dem einzigen roten Fleck im fast ganz besetzten Saal. Er drehte den Kopf ein paarmal zum Nebeneingang, und auch die Stufen, die überfüllt waren mit sitzenden und stehenden Zuschauern, musterte er prüfend mit zusammengekniffenen Augen. Als das erste Thema, das die Celli spielten, abgeschlossen war, beugte Gabriel sich zu Nita, und Michael hatte den Eindruck, daß ihre dunklen Augenbrauen sich hoben und ihr Gesicht blaß wurde. Sie neigte sich vor und schaute angestrengt von ihrem Platz in der Mitte zwischen den Geigen und Bratschen nah am Pult des Dirigenten auf den leeren Sitz. Dann begannen die Geigen von neuem, und nach und nach fielen die Flöte, die Oboe, die Klarinette und das Fagott ein und antworteten den Geigen. Und schon brach das Gewitter los, der zweite Teil der Ouvertüre. Ein Drama. Und es herrschte nicht nur Chaos, sondern auch angespannte Dunkelheit, und alles wies auf das kommende tragische Geschehen hin. Sie stiegen und stiegen in einem schnellen crescendo , bis alle Instrumente des Orchesters sich anschlossen und Theo van Gelden die Arme schwang und versuchte, die Echos des Gewitters, an dem sich nun alle beteiligten, auch die Pau ken und die große Trommel, und das schaurig und beängstigend war, in der Luft zu umarmen. Der Sturm schwoll ab und schwoll an, bis er sich beinahe legte, dann wieder aufflackerte und mit den Klängen der Flöte ausklang.
Als der dritte Teil der Ouvertüre begann und die Flöte die schöne bekannte Melodie sang, die das Englischhorn aufgriff, dem dann die tiefen Streicher folgten, die nun am Dialog teilnahmen, war Michael in die Musik vertieft wie in eine Geschichte. In einem bestimmten Augenblick bemerkte er sogar verlegen, daß sein Mund offenstand. Die Triangel und die Oboe diskutierten mit den Streichern die Natur der geheimnisvollen Welt, aber sie malten auch Sonne und Wie sen, Wälder und Haine. Bis zum Blasen der Trompeten, die den Aufmarsch der Rebellen ankündigten. Glocken und Streichinstrumente ließen Pferde galoppieren und im Saal eine Welt aus Rebellion,
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