Ochajon 04 - Das Lied der Koenige
»Was das Baby anbelangt ...«
Sie schaute auf ihr Glas. »Noa?«
»Von mir aus, dann eben Noa.«
»Was heißt, von mir aus. Das ist doch ihr Name, oder etwa nicht?«
»Das ist nicht ganz klar«, sagte er vorsichtig. Sein Herz raste, und sein Atem wurde kurz. Sie streckte die Beine aus, richtete sich in dem blauen Sessel auf, stellte das Glas auf das Kupfertischchen, zog die Augenbrauen zusammen und sagte schließlich: »Ich verstehe nicht ganz.«
Er erklärte es ihr.
»Ich glaube es nicht!«
Er nickte.
»In einer Pappschachtel? Im Luftschutzbunker? Wo sind wir hier? Wer setzt denn ein Kind, einen Säugling, in einem Bunker aus? Sagen Sie mir überhaupt die Wahrheit? Ist das eine wahre Geschichte? Wirklich?«
Er nickte.
»Aber so ein süßes Baby und ... sie ist hellhäutig ... und so lieb ...«
»Was hat das damit zu tun?«
»Wer sollte solch ein Baby aussetzen?! Wissen Sie, wie viele Menschen liebend gern ... wie viele es sich wünschen ... danach suchen ... Wer kann denn ein Kind einfach irgend wo liegenlassen?«
»Einer, der keine andere Wahl hat.«
»Man hätte sie zur Adoption freigeben können«, sagte sie auflehnend. »Wenn es schon sein mußte.«
»Nicht, wenn man nicht will, daß einer von ihrer Exi stenz erfährt«, warf er ein.
Sie schwieg. Er zündete sich noch eine Zigarette an.
»Was haben Sie jetzt vor?« fragte sie vorsichtig.
Eine Weile antwortete er nicht. Sie wartete. Ihre Augen waren auf seine Augen geheftet, auf das, was ihm wie ge spannte Wachsamkeit vorkam. In seinem Mund lagen schon Worte, aber er konnte sich nicht dazu überwinden, sie laut zu äußern: Ich will, daß sie bei mir bleibt. Auch als der Satz sich in seinem Innern artikulierte, hatte er einen irrationalen, verrückten Klang und brachte ihn dazu, sich selbst zu verabscheuen. Er hustete. Schließlich sagte er nur: »Wir reden morgen darüber. Ich muß eine Nacht darüber schlafen. Jedenfalls ist sie erst einmal hier und muß ein Geheimnis bleiben.«
»Ich rede sowieso mit keinem Menschen«, beruhigte sie ihn.
»Auch wenn Sie es tun sollten«, warnte er.
»Auch dann würde ich kein Wort sagen«, versprach sie.
2
Rossini, Vivaldi
und Schwester Nechama
Wie schön und streng spielte das Cello die Cellocantilene der Ouvertüre zu »Wilhelm Tell« von Rossini, das erste Stück, das an diesem Abend aufgeführt wurde. Und wieviel Trauer enthielt die Antwort der fünf Celli. Tief und dunkel war der erste Ton, der Anfangston. Ihm folgte wie eine Kaskade die Klangelegie der übrigen Celli. Michael kannte längst jede Pause, jeden Atemzug. Jeden Ton. Und jede Berührung des Bogens mit den Saiten, jedes Heben des weißen Arms, der durch den schwarzen weiten Ärmel zu sehen war, erschien ihm wie ein Echo auf jene Worte, die Nita am späten Nachmittag geäußert hatte, als sie vor der Glastür gestanden und auf die gegenüberliegenden Hügel geschaut hatte. Sie hatte das Cello in einer Hand, den Bogen in der anderen gehalten und nach draußen gestiert. »Manchmal ...«, ihre Stimme brach. Sie schluckte angestrengt. »Es kommt ganz plötzlich, ohne Vorankündigung, ich fühle es hier, diese Sehnsüchte, ich kann sie gar nicht definieren, sie sind so ... « Sie hatte mit dem Bogenfrosch auf ihre Brust gezeigt. »Und dann«, ihre Augen waren feucht und glänzend, »frage ich mich, warum das so sein muß und was ich falsch gemacht habe. Wie ich es hätte besser machen können, wenn überhaupt, warum alles so gekommen ist und ... Meine Mutter ist tot ...« Sie weinte.
Er saß in der Ecke des kleinen Sofas und hielt das Baby auf dem Arm. Ido pochte mit einem roten Klotz gegen das Gitter seines Laufstalls. Er beklagte sich, als der Baustein zu Boden fiel, packte seinen Fuß und versuchte, den großen Zeh in den Mund zu stecken. Nita sah ihn an und kämpfte erneut mit den Tränen. Ihre Stimme überschlug sich, als sie sagte: »Und dann würde ich am liebsten das Rad zurückdrehen und zu Vertrautem zurückkehren.« Sie lächelte, das heißt ihre Lippen verzogen sich ein wenig. Das Grübchen blieb verschwunden. »In diesen Momenten hasse ich mich selbst. Ich weiß, daß man sich diesen Sehnsüchten und Wünschen nicht ausliefern darf, daß ich sie in die Musik einfließen lassen müßte und daß ich ein Glückspilz bin, wie du gesagt hast. Daß die meisten Menschen nicht mein Talent haben. Und trotzdem
Weitere Kostenlose Bücher