Ochajon 04 - Das Lied der Koenige
saß. Er drehte den Kopf nach rechts und links zu den Nebeneingängen und tupfte sich in einer typischen Dirigentengeste mit einem Taschentuch, das er aus dem Frack zog, den Schweiß von der Stirn. Er wies erneut auf das Orchester, und das Publikum applaudierte in gleichmäßigem Rhythmus.
Michael zupfte an seinen weißen Manschetten, damit sie aus den Ärmeln seines grauen Anzugs hervortraten, und grinste über die penible Sorgfalt, die er Kleidung und Rasur angedeihen ließ. Wie in den ersten Konzerten, die er vor dreißig Jahren besucht hatte (Dreißig? fragte er sich schokkiert. Dreißig Jahre ist es her? Was war in den Jahren pas siert? Wo waren sie geblieben?). Damals hatte Becky Pome ranz, die Mutter von Usi Rimon, seinem besten Schulfreund, ihn zu den Abonnementskonzerten mitgenommen und mit ihrem Jagdgespür Michaels musikalische Erzieh ung mit seiner sexuellen Leidenschaft verwoben. Seltsam, daß sein Bezug zur Musik, die Erregung, die sie in ihm auslöste, die Stücke, die ihn aufwühlten, mit den Frauen zusammenhingen, zu denen er sich hingezogen fühlte. Becky Pomeranz hatte dies alles ausgelöst. Sie brachte ihn dazu, daß sein Herz schon am Morgen heftig klopfte, wenn ihn am Abend ein Konzert erwartete. Mit ihr hatte die Zeremonie des Ankleidens und der Rasur ihren Anfang genommen – damals hatte er ein langärmeliges, weißes Hemd und einen blauen Pullover mit hellbraunen Quadraten besessen, den ihm seine Mutter gestrickt hatte. Die ganze Geschichte hatte nur einen Winter und einen Frühling über dauert, bis Usi einmal die Tür geöffnet hatte, im Zimmer ge standen und sie überrascht hatte. Ihretwegen wurde sein Atem kurz, wenn er einen Konzertsaal betrat. Auch jetzt noch konnte er sie hören, wie sie in sein Ohr flüsterte: »Behalte diesen Moment in Erinnerung, vergiß nie, daß du heute abend hiergewesen bist, daß du Oistrach höchst persönlich Sibelius spielen gehört hast und nicht nur auf einer Platte.« Ihr Atem war so süß gewesen, und nun war sie schon über ein Jahr tot.
Theo van Gelden war eine beeindruckende Erscheinung, und er war wirklich nicht der Mann, den er im Hausflur gesehen hatte. Hier im Saal wirkte er größer, als er tatsächlich war, und überraschend dunkel. Seine dunkle Haut und sein silbernes Haar, der Frack, der ihm solch ein würdiges Aus sehen verlieh, seine energischen Schritte, wenn er zum zwei ten Mal die Bühne verließ, und die herrische Leidenschaft, die er ausstrahlte, all dies erklärte seinen Erfolg bei Frauen – oder auch seinen Mißerfolg, je nachdem, wie man drei Scheidungen und die in alle Winde verstreuten Kinder deuten wollte. »Mille e tre«, hatte Nita ihn nachsichtig lächelnd charakterisiert. Es war eine Weile vergangen, bis Michael verstand, daß sie die Register-Arie des Leporello aus »Don Giovanni« zitierte.
Die Bühne begann sich zu leeren. Die große Trommel wurde in den Hintergrund geschoben, auch die Becken. Die Bläser packten Trompeten und Posaunen in ihre Koffer, und ein paar Geiger, Cellisten und Bratschisten verließen die Bühne. Die Musik setzte wieder ein. Eine koreanische Flötistin in blauem Kleid spielte das Konzert »La notte« von Vivaldi. Der Sitz zu seiner Linken war noch immer leer. Wieder betrachtete Michael Nita. Sie sah bezaubernd aus in ihrem schwarzen Abendkleid, mit dem rötlichbraun glänzenden Haar und den weißen Schultern. Er war stolz auf sie, als wäre sie seine Schwester oder seine Tochter. Die dunklen Halbmonde unter den hellen Augen, die auf der blassen Olivenhaut ihres Gesichts lagen, konnte man aus dieser Entfernung nicht sehen. Michael hatte sie unterwegs überredet, die Augenränder zu überschminken, nachdem sie ununterbrochen davon gesprochen hatte, daß alle anwesend sein würden – alle hieß ihre Brüder und ihr Vater. Es war ihm vollkommen bewußt, wie sehr er sich danach sehnte, ein Teil dieses Kreises zu sein, wie das, was als Zweckgemein schaft begonnen hatte, eine Inszenierung für das Jugen damt, nach und nach zu einer echten Bindung wurde. Es lag an der Kombination, sagte er sich jetzt, von Kindlichkeit, einem verzweifelten Wunsch nach Liebe und der völligen Hingabe zu allem, womit sie sich beschäftigte, an den verschiedenen Stimmen, die aus ihr sprachen, und auch, obwohl es dafür keine Erklärung gab, an der Art, wie sie spielte, der Strenge, mit der sie ihren Körper manchmal streckte, gemessen an der Geschmeidigkeit, mit der sie sich über das Instrument beugte, der Art, mit der
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