Ochajon 04 - Das Lied der Koenige
noch alle zwei Stunden wach –, und die permanente Furcht, die in unterschiedlicher Intensität Besitz von ihm ergriff, all dies war der Grund dafür, daß er fast mit Abscheu an jene Klänge dachte, die ihm bestens vertraut waren und die er einmal so sehr geliebt hatte.
Auf seinem Weg zurück in den Saal, nachdem er die Mög lichkeit verworfen hatte, schon jetzt nach Hause zurückzufahren, hallten in ihm wie ein Echo die Glockenklänge des »Gangs zum Schafott« und das schrille Pfeifen des »Hexensabbats«. Er unterdrückte ein tiefes Seufzen, als er sich neben dem Bärtigen niederließ, der sein übergeschlagenes Bein nervös und gelangweilt rhythmisch schwang. Michael schlug das Programmheft auf, um noch einmal die Überschriften der »Episode aus dem Leben eines Künstlers« anzustieren. Der Text, der mit überflüssiger Fülle prunkte, ermüdete ihn – Rêveries, Bal, Marche au Supplice, Songe d'une Nuit du Sabbat. Auch der Gedanke an das Liebesleid, an eine tragische Geliebte, an Zerwürfnisse und Streitigkeiten, die Todessehnsucht des Helden, das Bild der Hinrichtung, Hexen und klappernde Skelette – alles kam ihm in diesem Moment fragwürdig und naiv vor. Wie die ferne Kostprobe einer Sache, von der er gehört, die er aber nie persönlich gekostet hatte.
Mir ist Rossini lieber, bestimmte er in seinem Innern, als die Oboistin aufstand und das A blies, nach dem das Orchester die Instrumente stimmte. Wieder füllte sich die Bühne mit Musikern; wieder waren sie zahlreich. Er versuchte, sie zu zählen. Etwa dreißig Geigen, zwanzig Bratschen und acht Celli. Auf hohen Sitzen am rechten Bühnenrand hinter sechs Kontrabässen saßen sechs Posaunisten, und links neben den zweiten Geigen, den Pauken, Becken und den Kesselpauken schwebten die beiden Händepaare der Harfenistinnen, und in den Reihen hinter den Cellisten drängten sich die Holzbläser, dahinter die Trompeten. Über dem Dirigentenpult baumelten die Mikrophone, die das Konzert live im Radio übertrugen, und nun kamen blendende Scheinwerfer hinzu, und zwei Kameramänner liefen auf der Bühne auf und ab, zogen Kabel, änderten Winkel und schoben die Oboistin nah an die Klarinette. Der zweite Teil des Konzerts sollte auch im Fernsehen übertragen werden. Ein Raunen ging durch das Publikum, als das Licht eines großen Scheinwerfers die ersten Reihen des Publikums überflutete und blendete. Michael senkte den Kopf, als das Licht auf sein Gesicht fiel, und vertrieb den Gedanken, daß er jetzt in seinem Sessel sitzen und die Übertragung im Radio und im Fernseher verfolgen könnte. Er hätte sich vielleicht darauf beschränkt, wenn er Nita nicht hätte begleiten wollen. Er dachte an das besondere Vergnügen, das einem ein Konzertbesuch bescherte und daß er mit Augen und Ohren Dinge wahrnahm, die man nicht übertragen konnte. Denn es gelang wohl nie, alle Eindrücke festzuhalten.
Wieder war Gabriel van Gelden der erste Geiger. Wieder stand er mit dem Rücken zum Publikum und strich den Bogen seiner Geige. Er lauschte dem Stimmen der Bratschen, der Celli und schließlich der übrigen Geigen. Auf seinem Hochsitz wiederholte der Klarinettenspieler immer wieder die »Idée fixe« der Symphonie. Die Bühne lärmte in völliger Kakophonie. Der Saal füllte sich mit dem Lärm der stimmenden Instrumente, in dessen Verlauf der Kopf Gabriel van Geldens sich immer wieder in Richtung Nebeneingang drehte.
Theo van Gelden verneigte sich bereits kurz vor dem Pu blikum, und der alte Mann, der vor Michael saß, wurde still, griff aber erneut nach der Hand mit den langen Fingernägeln. Wieder bemerkte Michael, wie Nitas dunkle Augenbrauen sich zusammenzogen, wenn ihr Blick auf den leeren Sitz neben dem seinen fiel. Der Vater war nicht gekommen, und er würde dieses Konzert wohl kaum hören, dachte Michael, als das Orchester leise mit dem Thema des ersten Satzes begann. Wie hatte er die zarte Eröffnung der Holzbläser vergessen können und den stufenweisen Einsatz der Streicher. Das Husten des Publikums übertönte beinah das Flötenpaar, das Oboenpaar und die Klarinetten. Es dau erte an, solange die Musik pianissimo war. Michael dachte an die vollen, glatten, braunen Arme von Becky Pomeranz und an den Tag, an dem sie ihm die »Symphonie fantastique« vorspielte, und an den verführerischen Klang ihrer Stimme, als sie ihm schilderte, wie der Musiker phantasierte, wie er seine Geliebte tötete, wie er zum Schafott geführt wurde und wie die Glocken in der Ferne klangen.
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