Ochajon 04 - Das Lied der Koenige
immer so pünktlich. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Wir haben sogar seinen Zahnarzt angerufen. Aber es war niemand mehr in der Praxis. Nur der Anrufbeantworter war eingeschaltet. Auch in seiner Privatwohnung geht niemand an den Apparat. Der Zahnarzt war sicherlich auch hier, er ist verrückt nach Musik und hat ein Abonnement.«
Michael suchte nach beruhigenden Worten und stellte Vermutungen über Zahnschmerzen an. Aber Nita sagte noch einmal, daß bei ihm zu Hause niemand abhob, und dann meinte sie: »Und Gabriel dreht durch. Wir müssen ihn mit Gewalt hierbehalten. Denn wenn er plötzlich verschwindet, wird sofort etwas nach außen dringen, und es werden genug Leute anwesend sein, die etwas dazu bemerken würden, wenn er nicht da wäre. Es wäre wirklich das beste, ich meine, wenn du willst, wie es dir lieber ist ...«
Michael nickte, streichelte beruhigend über ihre Schulter und ging schnell hinaus in die kühle Luft zu seinem Auto, das auf dem Parkplatz in die Augen stach, der sich inzwischen fast geleert hatte.
Die Alltagsroutine, das Gespräch mit dem Babysitter und seine Bezahlung, das Zudecken von Ido, der sich freigestrampelt hatte, das Füttern der Kleinen, die wach geworden war, all diese Dinge ließen den Gefühlssturm schnell verflie gen, den das Konzert in ihm ausgelöst hatte. Nachdem sie getrunken hatte, legte er sich die Kleine lange auf den Bauch. Er wollte sie nicht sofort wieder in ihre Wiege legen, atmete ihren Geruch ein und berührte sanft ihre Wange. In solchen Momenten fühlte er sich mitunter regelrecht überwältigt von Mitgefühl und Wärme. Gefühle, die er schon längst verloren geglaubt hatte. Hier wurde nicht gekämpft, sie brauchte ihn ganz einfach, und er mußte sich nicht vor ihr schützen. Wie zart ihr Geruch war, und wie er glauben konnte, wenn er sie ansah, daß in ihrem Leben noch alles möglich, alles denkbar war. Er brachte sie zurück zu ihrer Wiege, und weil er so er schöpft war, nickte er auf dem kleinen Sofa im Wohnzimmer ein, das für seine Größe viel zu kurz war. Dennoch schlief er tief und fest, sogar tief und friedlich, was aus der Gewißheit resultierte, daß im Nebenzimmer die beiden Kleinen schlie fen. In diesem Schlaf wurde er überrascht und sprang auf, als das Telefon klingelte.
Theo van Gelden war am anderen Ende der Leitung. Er war es, der ihm von dem Einbruch berichtete und dem Alten, der gefesselt und tot aufgefunden worden war. Er flüsterte mit monotoner Stimme und erklärte ihm, daß Nita gerade mit der Polizei sprach und daß sie »in einem furchtbaren Zustand« war. »Der Arzt hat ihr ein Beruhigungsmittel gegeben. Man kann nichts machen«, seufzte er plötzlich, »unser Vater ist tot. Er ist tot, Schluß, aus.« Er zog die Nase hoch und richtete aus, daß Nita Michael darum bitte, in ihrer Wohnung zu übernachten und zu warten, bis sie zurückkam. Ohne daß sie es abgesprochen hatten, war es klar, daß sie die Nächte getrennt verbrachten, und jeden Abend, nach der Nachtmahlzeit des Babys, schlug er die Kleine in die rosa Decke, die Zila mitgebracht hatte, ging ein Stockwerk tiefer und bettete sie in den Stubenwagen, den er von Zimmer zu Zimmer schob.
Da er schlagartig begriff, daß er sich mitten in einer Katastrophe befand, die alles zerstören würde, und wegen des abweisenden Tons von Theo, fragte Michael, ob er wirklich nicht ein paar Worte mit Nita wechseln konnte. Er hörte eine kurze Pause. Theo van Gelden schien nachzudenken und sagte schließlich: »Besser nicht. Hier wimmelt es von Polizisten, Krankenwagen und so weiter.«
»Gerade deshalb ...«, setzte Michael an, doch er besann sich eines Besseren. Er hatte vorgehabt, sie zu fragen, ob sie wünschte, daß er zur Wohnung des Vaters kam, ob sie ihn dort bräuchte, aber schon als er anhob zu sprechen, sah er ein, daß er die Kinder nicht allein lassen konnte, und noch mehr: In diesem Moment wurde ihm klar, daß die Sache mit dem Baby auffliegen würde, falls der Leiter der Ermittlungen ein Bekannter war. Darum riß er sich zusammen und fragte, wann der Einbruch stattgefunden hatte und der Tod eingetreten war.
»Man kann es noch nicht mit Bestimmtheit sagen«, antwortete Theo van Gelden, »sie vermuten heute abend oder am späten Nachmittag. Sie haben noch nicht ...«, er verschluckte sich, seufzte, »sie haben den Zusammenhang zwischen Raumtemperatur und ... Leichenstarre noch nicht ermittelt.«
»Können Sie frei sprechen?« erkundigte sich Michael.
»Ich bin in der
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