Ochajon 04 - Das Lied der Koenige
an die Reihe kamen. Die Schwester hatte bei ihrem Besuch ein paarmal von diesen Leuten gesprochen. Oder man fand sie nicht, und das Gericht würde die Kleine nach einer bestimmten Frist zur Adoption freigeben, und dann würde er sie sowieso verlieren. Es wäre besser, wenn er sich in der Zwischenzeit nicht so sehr an sie band. Die ganze Idee war Wahnsinn. Hätte er nur verstanden, was seine Handlungen in dem Moment bestimmte, als er die Entscheidung traf, das Baby zu behalten. Wenn es denn überhaupt eine bewußte Entscheidung war. Die meiste Zeit schien es ihm, daß eine fremde Macht ihn lenkte. Doch er verstand es nicht. Das eine Mal, daß er ohne zu überlegen seinem Gefühl gefolgt war, mußte er feststellen, wieviel Gefahr damit verbunden war. Und wie recht er hatte, wenn er stets darauf bedacht war, nicht spontan zu handeln. Sofort sagte er sich: Aber nehmen wir an, ich hätte sie zum Krankenhaus gebracht, und dort wäre sie jetzt. Auf der Säuglingsstation würde niemand sie auf den Arm nehmen, schon gar nicht ich. Warum nicht das Jetzt genießen, ohne an die Zukunft zu denken. Nichts dauert ewig. Tatsache war, daß Juwal, der auch einmal so klein wie dieses Baby gewesen war, in vielerlei Hinsicht nicht mehr zu ihm gehörte. Er seufzte. Der maßregelnde Blick des Bärtigen zu seiner Rechten zeigte ihm, daß er zu laut geseufzt hatte.
Dreimal rief man sie zurück auf die Bühne, und sie gab noch eine Zugabe. Große Schönheit mußte in ihrem Spiel gelegen haben, aber er war nicht mit dem Herzen bei der Sache gewesen, und nichts von dieser Schönheit war auf ihn übergesprungen. Die Lichter im Saal brannten nun. Der Bärtige eilte aus dem Saal, bevor die Menge sich erhob. Die Bühne leerte sich. Michael fragte sich, ob er in der Pause zu Nita gehen sollte und ob sie wegen der Abwesenheit ihres Vaters immer noch so nervös und besorgt war. Aber statt dessen hastete er zur Telefonzelle. Erst nach einem Gespräch mit dem Babysitter, der ihn beruhigte, nahm er sich die Zeit, eine Zigarette anzuzünden und die Schlange zu betrachten, die sich vor der Kaffeetheke bildete. Automatisch gesellte er sich zu der wartenden Menge. Wie im Schlaf spürte er, wie man ihn berührte, wie man ihn vorwärts schob, wie Frauen in Stöckelschuhen und eleganten Kleidern sich mit den Ellbogen zwischen ihm und dem Mann, der die Pappbecher ausgab, einen Weg bahnten, bis ihn schließlich jemand nach seinen Wünschen fragte. Später rauchte er eine Zigarette und hielt einen Pappbecher mit Kaffee in der Hand, an dessen Rand er hin und wieder nagte.
Er sollte eigentlich beschwingt sein, in Erwartung der »Symphonie fantastique« von Berlioz, die Becky Pomeranz so sehr geliebt hatte. Jahre waren vergangen, seit er sie das letzte Mal gehört hatte. Damals hatte er sie wieder und wieder angehört und jeden einzelnen Ton gekannt. Er wußte, daß sie eines der Musikstücke war, auf deren Interpretation Theo van Gelden sich spezialisiert hatte und mit der er berühmt geworden war. Es hieß, daß er das Beste von Bernsteins Interpretation übernommen hatte und daß auch eine Aufführung unter seiner Leitung das glissando der Flöte im letzten Satz deutlich herausstellte.
»Weißt du, was ein glissando ist? « wollte Nita wissen, als sie ihm laut ein paar Absätze eines Zeitungsinterviews vorlas, das Theo zur Saisoneröffnung gegeben hatte. Als sie sah, daß er sich krampfhaft zu erinnern versuchte und ver legen den Kopf schüttelte, beeilte sie sich zu sagen: »Es sind schnelle Läufe«, und pfiff schrill ein paar Töne. »Und wenn er ein gutes Orchester hat«, las Nita weiter, »kommt seine anerkannte Fähigkeit, der Symphonie den Sturm ihrer gegensätzlichen Gefühle zu entlocken und die Dramatik des musikalischen Geschehens, des Liebesleids, zu betonen, zum Tragen.«
Nita zitierte diese gängige Meinung und bemerkte trokken, Theo wäre der letzte, der dazu in der Lage wäre, denn er wäre noch nie ein leidender Liebender gewesen, sondern nur ein Liebhaber, der Leid verursachte. »Vielleicht ist das der Grund, weshalb er es kann«, hatte Michael erwidert, und sie hatte ihn nachdenklich angesehen und gesagt: »Manchmal kannst du richtig banal sein.« Sie hatte sich sofort entschuldigt. Aber all dies interessierte in diesem Augenblick nicht. Die Anspannung, die zum Teil auf das lange Sitzen vor den Augen von Schwester Nechama zurückzuführen und teilweise Resultat einer sich steigernden Übermüdung war – das Baby wurde in der Nacht immer
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