Ochajon 04 - Das Lied der Koenige
Tat. Er erwiderte ihr Lächeln und fragte bereitwillig und bemüht, ruhig und angstfrei zu wirken, ob sie die Kleine sehen wolle.
Schwester Nechama schlitzte die Augen, bis sie beinahe geschlossen waren, stellte sich breitbeinig auf, klopfte wie zum Ansporn auf ihre Schenkel, ließ den Rock fallen, mit dem sie sich etwas Kühlung verschafft hatte, und zog stapelweise Formulare aus ihrer Tasche, zwischen die sie zwei blaue Bogen Pauspapier schob. »Kann ich vielleicht ein Glas Wasser bekommen, bevor wir uns an die Arbeit machen und ich mir das Kind ansehe, draußen herrscht eine Affenhitze, es ist weiblichen Geschlechts, nicht wahr?«
Er beeilte sich und kehrte mit dem Wasserkrug und einem blitzsauberen Glas zurück. Sie kontrollierte aufmerksam das Glas, bevor sie sich aus dem Krug etwas Wasser ein schenkte. Er hatte gleich gewußt, daß es um Reinlichkeit ge hen würde, obwohl sie so tun würde, als wäre die Hauptsache die Beziehung und die für die Kinderbetreuung aufgewendete Zeit. Sie stürzte das Wasser herunter und ließ ihn dabei nicht aus den Augen.
»Ja«, sagte sie schließlich und rückte mit dem Stuhl, auf den sie sich gesetzt hatte, nah an den runden Eßtisch. »Was haben wir denn da?« knurrte sie. Sie leckte an ihrem Finger, blätterte in den Formularen, eine Seite und noch eine Seite, wühlte in einer großen schwarzen Tasche, deren Griffe kurz davor waren, sich gänzlich aufzulösen, und hob erneut den Kopf. »Haben Sie vielleicht einen Stift für mich, ich finde meinen Kugelschreiber nicht.«
»Bitteschön.« Michael reichte ihr geistesgegenwärtig den Stift, der in seiner Brusttasche gesteckt hatte.
Sie musterte den Kugelschreiber eingehend, doch er wies keine Besonderheiten auf. Dann setzte sie die kleine Brille auf, die an einer dicken Goldkette über einer langen grünen Perlenkette zwischen Doppelkinn und Brust baumelte. »Was haben wir denn da?« seufzte sie und bat – der Kopf war zur Seite geneigt, und ihre Augen öffneten sich, als ob sie ihren leeren desinteressierten Blick mit Leben füllen wollte –, daß er ihr nochmals den genauen Hergang wiedergab, über den sie vom Jugendamt schon informiert worden war. Er trug die Formulierungen vor, auf die er sich mit Nita geeinigt hatte. Daß sie das Mädchen am Morgen des zweiten Tages des Neujahrsfestes gefunden hatten, und weil es ein Feiertag gewesen war, hatten sie bis zum Abend gewartet, damit ein Arzt das Kind untersuchen konnte, und hatten den Vorfall der Polizei erst am kommenden Tag gemeldet, denn er wußte ja selbst zur Genüge, daß der diensthabende Beamte am Feiertag niemanden freistellen konnte, um nach der Mutter zu suchen.
Auch jetzt, als die in Frankreich aufgewachsene Nordkoreanerin ihren zarten Körper vor und zurück bewegte, und zarte, gefühlvolle Klänge produzierte, während der Cembalist im vierten Satz des Konzerts »La notte« ein und denselben Ton wiederholt anschlug, klang der mißtrauische, häßliche Tonfall, der sich angeblich um Korrektheit bemühte, in seinen Ohren nach: »Aber Sie haben sie nicht ins Krankenhaus gebracht, um feststellen zu lassen, daß ihr wirklich nichts fehlte.«
Mit großer Geduld erklärte er ihr, daß der Kinderarzt bestätigt hatte, daß dies nicht nötig war, daß sie sich dort mit Krankheiten infizieren konnte und daß man die Sache für den Augenblick auf sich beruhen lassen sollte.
»Aber wozu haben wir Vorschriften! « protestierte sie und machte sich auf die Ränder der ersten Seite des Formulars eifrig Notizen. Sie befeuchtete die Lippen, während sie über dem Bogen saß. Obwohl der Besuch gut verlaufen war und sie sogar beim Anblick der Babys gelächelt hatte und bemerkte: »Die haben es aber gut hier«, und obgleich sie ihn wohlwollend angesehen und beim Abschied gesagt hatte: »Die Sache geht vermutlich klar, ich darf Ihnen nichts sagen, aber glauben Sie mir, es wird in Ordnung gehen«, war es ihm damals wie heute klar, daß nichts klappen würde. Im Publikum war das Räuspern und Husten zwi schen den Sätzen zu hören. Schon vier von sechs Sätzen wa ren gespielt, zwei larghi und zwei presti waren verstrichen, ohne daß er sie wahrgenommen hätte. Nach dem ersten Einsetzen der Flöte, die die Nordkoreanerin mit solcher Virtuosität spielte, hatte er abgeschaltet, als wäre er gar nicht anwesend.
Zum guten Schluß würde entweder die Mutter aufgetrieben und das Baby zur Pflege einem der kinderlosen Paare überlassen werden, die schon viele Jahre warteten, daß sie
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