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Ochajon 04 - Das Lied der Koenige

Ochajon 04 - Das Lied der Koenige

Titel: Ochajon 04 - Das Lied der Koenige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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Klar und deutlich hörte er sie nun, wie sie ihm beschrieb, wie die Bläser die Häßlichkeit der Hinrichtung mit den tiefen Posaunenklängen ausmalten und wie aus der Ferne wieder das Thema der Geliebten zu hören war, als der Kopf rollte. Und wie später das Bild der Hexen auftauchte, unter denen die Geliebte sich befand, häßlich wie die Hexen, gefährlich wie die Hexen. Ihr Thema, das so himmlisch war, so zärtlich, tauchte erneut mit grotesker Vulgarität auf, angedeutet durch die hohen, schrillen Klänge der Pikkoloflöten und der Klarinette. »Alles eine Frage der Orchestrierung, die Melodie ist immer die gleiche«, hatte sie gesagt (er war damals zu ängstlich und schüchtern gewesen, um zu fragen, was sie meinte) und hatte seine Aufmerksamkeit auf die Nachahmung des Skelettklapperns gelenkt, das die Geiger suggerierten, wenn sie die Bögen umdrehten und auf die Saiten schlugen.
    Plötzlich erkannte er das Leitmotiv wieder, das im Saal nun zum ersten Mal erklang. Er freute sich über die ihm ver trauten Klänge, und zugleich überkam ihn eine große Trauer über die Zeit, die verstrichen war, und darüber, was nicht mehr war und niemals wieder sein würde. Die brau nen Augen von Becky Pomeranz, die klug und verführerisch glänzten, die unbedarfte Naivität, mit der er sie begehrt hatte, und die Angst vor sich selbst und vor seiner Begierde. Plötzlich bemerkte er, daß er lächelte, weil er an eine Zeichnung dachte, auf die er einmal in einer alten Zeitschrift gestoßen war. Eine Karikatur aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, in der Berlioz ein grandioses Orchester dirigierte (unter ihm, in einer Art Wanne, häuften sich gigantische Trompeten und eine große Kanone, Äxte und gewaltige Hämmer), und in der Luft schwebten verschiedene Schlaginstrumente und Triangeln. Und um ihn herum saß ein schockiertes Publikum, taub vom Lärm.
    Auch hier war das Publikum völlig gebannt. Als er zur Seite schielte, sah er, wie der Kritiker den Stift ein paar Sekunden lang über das Programm schwang, als ob er darauf wartete, den Einsatz der Streicher zu beurteilen. Aber auch nach ihrem Einsatz benutzte er den Stift nicht, sondern legte seinen Arm auf die Sessellehne. Den ganzen ersten Satz über rührte sich niemand um Michael herum. Die Luft im Saal schien zu stehen. Kein Mensch hustete mehr. Die schwarzhaarige junge Frau saß aufrecht da, und bei den leisen Passagen glaubte er, den schwerfälligen Atem des Alten hören zu können. Theo van Gelden hob und senkte seine Arme, und das Orchester spielte wie verhext. Ein Ton jagte den anderen, und als die Passagen erklangen, die in einem langen crescendo abschweiften und ins Nichts führten, ließ Michael sich von ihnen täuschen und folgte ihnen in der vergeblichen Hoffnung, daß sie irgendwo mündeten.
    Schließlich gab es stürmischen Applaus, und einige Male kehrte Theo van Gelden zurück auf die Bühne, ließ das Orchester aufstehen und winkte den Musikern mit gefalteten Händen. Er nahm einen Blumenstrauß von einem jungen Mädchen entgegen, das er auf die Wange küßte. Erst nachdem das Publikum sich überzeugt hatte, daß nun nichts mehr folgte, und die junge Frau dem Alten erstaunt zuflüsterte: »Es hat mir doch gefallen!«, gingen die Lichter an, und die Zuschauer, von denen viele lächelten, verließen langsam den Saal. Nita kam an den Bühnenrand, sah ihn an und machte ihm Zeichen, näher zu kommen. Er bahnte sich einen Weg zur Bühne. Ihr Kopf beugte sich vor, und sie ging ein wenig in die Knie. Er hob an, ihr zu sagen, wie schön sie Rossini gespielt hatte, doch sie unterbrach ihn: »Vater scheint nicht gekommen zu sein. Ich verstehe das nicht, er geht nicht ans Telefon. Ich habe in der Pause versucht ihn anzurufen. Auch Theo hat es versucht.«
    Nachdem sie ein paarmal wiederholt hatte, daß ihr Vater nicht gekommen sei, fügte sie hastig hinzu, es bliebe nichts anderes übrig, als in seine Wohnung zu fahren, um nachzusehen, ob ihm etwas zugestoßen sei. Aber »vorher«, sagte sie verzweifelt, »ist da noch der feierliche Empfang, an dem wir alle drei teilnehmen müssen. Erst später können wir ...«
    Zögernd fragte sie, ob er Wert auf den Empfang lege, und er erwiderte schnell, daß er lieber zu den Babys zurückkehren und warten würde, bis sie kommen könnte, was auf ihrem Gesicht eine gewisse Erleichterung hinterließ. Aber wieder kehrte ein düsterer Ausdruck auf ihre Stirn und in ihre Augen zurück. Wieder sagte sie: »Ich verstehe das nicht. Er ist

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