Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ochajon 04 - Das Lied der Koenige

Ochajon 04 - Das Lied der Koenige

Titel: Ochajon 04 - Das Lied der Koenige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
Vom Netzwerk:
einen kurzen Augenblick. Michael begriff erneut, daß Nitas verbliebene Kraft sich ganz in der Sorge für den anderen, in der Notwendigkeit, Rücksicht zu nehmen, erschöpfen würde. Es war der einzige Weg, sie aus der Reserve zu locken.
    Es war ihm klar, daß der Tod ihres Vaters, vor allem die Art und Weise, wie er ums Leben gekommen war, das, was wie der Anfang einer möglichen Genesung ausgesehen hatte, zurückwerfen würde. Er hatte gespürt, daß diese Genesung mit seiner Anwesenheit zusammenhing, was ihn sehr befriedigt hatte. Panische Angst drohte nun erneut von ihm Besitz zu ergreifen, als er an Nitas Zusammenbruch dachte, der in den nächsten Tagen erfolgen würde. Auf einmal schwebte der Schatten des allwissenden Lächelns von Schwester Nechama über der Wickelkommode. Aber Michael verdrängte die dunklen Gedanken mit aller Macht. Man mußte es nehmen, wie es kam, hielt er sich vor Augen. Es hieß, daß ein Ungeborenes die Empfindungen seiner Mutter spürt. Verstand dieses Baby womöglich, daß er nun die zentrale Figur in seinem Leben war? Konnte es nachfühlen, auf welch schwachen Beinen seine Welt stand? Er hielt das Kind fest in seinem Arm. Es krümmte sich. Er sah das glatte Gesicht an, das rosa vom Schlaf war. Für einen Moment schien ihm das Baby in seinem Arm vollkommen sicher. Beinahe hätte er laut ausgesprochen: »Ich werde nicht zulassen, daß man dir ein Haar krümmt!« Aber schon im nächsten Augenblick, während die Kleine noch auf seinem Arm lag, wurde er von Zwei feln geplagt.
    »Es war eine schreckliche Reise damals, die Reise anläßlich deiner Bar-Mizwa«, sagte Theo abwesend. »Sie sind mit uns von Museum zu Museum gezogen, in Wien, in Amsterdam, in Paris. Vater hat es für sich selbst und für dich gemacht. Ich war an solchen Dingen damals gar nicht interessiert ... und Nita war ja fast noch ein Baby.« Er schaute in ihre Richtung, und Nita vergrub ihr Gesicht erneut zwischen ihren Knien.
    Als sie vor mehr als einer Stunde in die Wohnung gekommen waren, war sie sofort ins Kinderzimmer gegangen, zu Idos Bett – Michael war ihr gefolgt und an der Tür stehengeblieben –, dann war sie ins Schlafzimmer geeilt, hatte die Stöckelschuhe in die Ecke geschmissen, die Tür hinter sich geschlossen und war mit einem weiten Blumenrock und einem schwarzen Pulli wieder herausgekommen. Jetzt war der Rock um sie ausgebreitet und verdeckte ihre Silhouette. Erst als sie ihre Knie angezogen, sie eng gegen die Brust gedrückt und ihr Gesicht zwischen ihnen verborgen hatte, war ihre Magerkeit wieder andeutungsweise zu sehen gewesen. Plötzlich hatte er das Bedürfnis, sich neben sie zu setzen und seine Arme um ihren Körper zu legen. Erst gestern hatte sie so herzlich gelacht. Das Grübchen war auf ihrer Wange erschienen, und in ihren Augen hatte ein lausbübischer Glanz gelegen. Es war so einfach, sie zum Lachen zu bringen. Er hatte den Eindruck, daß er sie wirklich froh machte, und dieser Gedanke hatte ihn in den letzten Tagen sehr befriedigt. Es waren erst ein paar Stunden vergangen, seit er ihr an der Tür auf ihrem Weg nach draußen gesagt hatte: »Ich habe beschlossen, daß ich dich glücklich machen will. Ich will es von ganzem Herzen, und ich weiß, daß es passieren wird.« Sie hatte ihn ernst, naiv und vertrauensvoll angesehen.
    Ein kühler Wind, der frühe Morgenwind in Jerusalem, blies plötzlich durch die Balkontür und erweckte die Illusion, daß der Herbst nun tatsächlich hereinbrach, während Michael die noch zu erwartende Hitze in den Knochen spürte. »Ach, wie unglücklich ich damals gewesen bin«, murmelte Theo, »vor allem wegen Dora Sackheim, die mit mir ganz und gar nicht zufrieden war, nur mit dir, Gabi, weißt du noch? Aber wegen ihr sind wir überhaupt gefahren. Sie hatte gesagt, mehr Allgemeinbildung und ein normales Leben täten uns gut. Es war ja ein Teil ihrer umfassenden Weltanschauung, daß man ein normales Leben führen sollte. Als ob es eine Chance auf ein normales ...« Er schwieg und atmete tief und geräuschvoll ein. »Als wir zurückkamen, bin ich nicht mehr zu ihr gegangen. Erst spä ter, viele Jahre später, habe ich gedacht, daß es eine elegante Lösung war, eine elegante Lösung von ihr, mich dazu zu bringen, daß ich aufgab. Aber schon damals habe ich gespürt, ohne es zu wissen, daß sie es war, die mich aufgegeben hatte. Ich weiß selbst nicht, warum ich nicht mehr zu ihr ging. Du hast das nicht verstanden. Dich hat sie ja geliebt.« Gabriel rutschte in

Weitere Kostenlose Bücher