Ochajon 04 - Das Lied der Koenige
dem Korbsessel, auf dem er saß, hin und her, als ob er die richtige Position noch nicht gefunden hätte, und rieb sich die Augen. »Aber das Bild im Rijksmuseum habe ich gesehen«, fuhr Theo fort, »ich erinnere mich noch genau daran, wahrscheinlich wegen des Gemäldes, das bei uns zu Hause hing.«
Michael räusperte sich. Das lange Schweigen schien seine Kehle auszutrocknen, und er fragte entschuldigend: »War euer Bild ein Original? Ich verstehe nicht, wenn ihr sagt, daß es in Amsterdam hing, wie ist es dann zu eurem Vater gekommen?«
»Was daheim bei unserem Vater hing«, sagte Gabriel und nahm die Hände vom Mund, »war eine von drei Studien, die van Steenwijk angefertigt hat, bevor er das große Gemälde malte. Auch sie waren in Öl auf Leinwand.«
Theo, der bisher Michael kaum direkt angesprochen hatte, lehnte sich gegen das Bücherregal und schaute aus dem Fenster, als er sagte: »Ich weiß nicht, ob Sie diese Vanitas-Stilleben kennen, es war ein gängiges Thema in der flämischen und holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts. Van Steenwijk gehörte der Generation Vermeers an. Er war nicht so ein großer Maler wie Vermeer, aber groß genug. Kunstexperten stufen ihn gemessen an Vermeer als drittrangigen Maler ein. In seinen Bildern findet man das Vermeersche Licht, Sie wissen schon, dieses weiche gelbliche Licht. Nur findet man bei Vermeer keine Vanitas-Symbole.
»Du hast seine Frage nicht beantwortet«, bemerkte Gabriel, »erklär es ihm, er hat dich nach dem Bild bei uns zu Hause gefragt.«
»Das große Bild, das im Rijksmuseum in Amsterdam hängt, ist wie alle Vanitasdarstellungen ein Stilleben. Ich glaube, es stellt eine Flöte, Bücher, Früchte und eine Medaille dar und ...«
»Und einen Totenkopf, der auf einem Bücherstapel ruht«, ergänzte Gabriel. »Ein Totenkopf ist abgebildet anstelle einer Fliege oder eines Wurms.«
»Von was für einer Fliege redest du?« fragte Theo und sah seinen Bruder erschrocken an.
»Nun, auf den Vanitas-Stilleben sind häufig Schalen mit makellosen Früchten abgebildet oder Vasen mit Blumen in allen Farben der Welt, aber es gibt immer eine oder zwei Fliegen, die über ihnen schwirren oder gerade von ihnen abheben, oder einen Wurm, der aus irgendeiner tadellosen Frucht herauskriecht, damit man nicht vergißt, daß alles einmal verrotten wird, daß alles vergänglich ist.«
»Ich hasse es«, sagte Theo und erschauerte, »ich hasse es!« Er schüttelte sich erneut und schlang die Arme um sich selbst. »Auf jeden Fall«, wandte er sich an Michael, sein lin ker Arm hielt noch seine rechte Schulter, »gibt es drei Bilder, die er vor dem großen Gemälde malte. Frühe Studien von Details des großen Gemäldes, wesentlich kleiner, aber auch in Öl. Es ist bekannt, daß es insgesamt drei davon gibt, die zusammengehören. Unser Bild war seit Generationen im Besitz unserer Familie und stammte schon von Vaters Urgroßvater, glaube ich. Vater hat es uns immer gern erklärt, wie man dank der Bücher, die sie damals führten, heute die finanzielle Lage Rembrandts und anderer Maler rekonstruieren kann. Durch sie weiß man auch, daß es drei Studien und nicht mehr zu diesem Bild gab. Jede der Studien enthält Details des großen Gemäldes aus verschiedenen Ansichten gemalt«, führte er aus und bewegte zur Erklärung den Arm in der Luft. »Zwei der Studien hat irgendein schottischer Lord zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf einer Reise durch Europa erworben, damals pflegte man durch Italien und Holland zu reisen und Gemälde zu kaufen, denn dort fand man einen verarmten Adel, Fürsten und Herzöge, die nicht genug zu essen hatten. Unsere Studie zeigte die Flöte und den Schädel auf dem Bücherstapel. Es war ein kleines Bild.« Theo hielt seine Hände etwa zwanzig Zentimeter auseinander. »Die beiden anderen sind im Besitz eines schottischen Sammlers«, fügte er hinzu. »Gabi hat das Bild geliebt, nicht wahr? Gabi, dir stand es am nächsten, habe ich recht?« Ein Schimmer von Intimität lag in seinen Augen, als er seinen Bruder ansah.
»Sie haben das Bild aus dem Rahmen geholt«, erklärte Gabriel dem Teppich, aber Michael kam es vor, als ob er mit seiner dumpfen Stimme zu ihm sprach. »Es war jemand, der von dem Bild wußte, der seinen Wert kannte. Ich verstehe nur nicht, daß der Einbruch nicht geschah, als Vater nicht daheim war. Warum mußte es ausgerechnet passieren, als er in der Wohnung war? Der Einbruch hätte doch erfolgen können, als er beim Zahnarzt war.«
»Wie
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