Ochajon 04 - Das Lied der Koenige
markieren. Eine Linie, die er vor her nicht bemerkt hatte.
»Was wolltest du sagen, Theo?« fragte sie ängstlich. »Hör auf, mich wie ein Baby zu behandeln. Vor mir müßt ihr nichts mehr verbergen. Ich habe längst bewiesen, daß ich etwas verkraften kann ...«
»Es ist nicht deinetwegen, Nita«, sagte Theo und sah sie flehend an. »Wirklich nicht deinetwegen. Auch wenn du für mich immer das kleine Mädchen bleibst. Was soll ich machen? Ich dachte nur ...« Er wandte Michael seinen Kopf zu und sah Gabriel erneut an. »Es hat auch keinen Zusammenhang zu irgend etwas, denn ...«
»Du kannst vor ihm sprechen«, bestimmte Nita. »Für mich gehört er zur Familie. Er steht mir sehr nah, und ich habe bedingungsloses ... ich habe Vertrauen zu ihm.« Sie schwieg und senkte den Blick.
»Aber mir steht er nicht nah«, argumentierte Theo. »Ich weiß nicht, ob ich ihm vertrauen kann.« Er fuchtelte mit dem Arm in der Luft und murmelte: »Ich bitte um Vergebung, es ist nichts Persönliches.«
»Auch nicht, wenn ich dir sage, daß du ihm wirklich vertrauen kannst?« Nitas Augen füllten sich mit Tränen.
»Was wolltest du sagen, Theo? Von mir aus, sage es«, raunte Gabriel mit der dumpfen Stimme, die aus dem Teppich zu dringen schien.
Michael ging in die Küche, um frischen Kaffee aufzubrühen. Von der Küche aus hörte er Theo flüstern. Er konnte den Inhalt seiner Worte jedoch nicht verstehen. Bis er dessen Ausruf hörte, der beinahe ein Schrei war: »Ich ver stehe es nicht. Mir kannst du es wenigstens erklären!« Wieder erklang ein Murmeln – er konnte den Sprecher nicht identifizieren. Michael kehrte zurück ins Zimmer und stellte das Tablett ab. Er registrierte, daß sie seinetwegen ihre Unterhaltung unterbrachen. Er stellte eine Tasse vor Nita, doch sie schüttelte nur den Kopf und zeigte auf ihren Hals mit einer Bewegung, die eine Sperre beschrieb. »Geh nicht!« wies sie ihn an, als er Anstalten machte, sich ins Schlafzimmer zurückzuziehen.
Theo setzte seine Brille wieder auf. Er kreiste um den Korbsessel, in dem sein Bruder saß, stellte sich neben das Fenster und ließ sich schließlich auf den geflochtenen Stuhl fallen. Als Gabriel weiter schwieg, fing Theo wieder zu spre chen an: »Gut, Nita. Sie hat nichts zu verbergen. Jeder ihrer Schritte steht wegen des Kindes von vornherein fest. Und wer beim Friseur war, hat ... Aber ich zum Beispiel habe die Zeit mit etwas verbracht, über das ich nicht sprechen will. Ich mag es nicht, wenn jemand seine Nase in meine Angelegenheiten steckt, und obwohl ... du hast gesehen, daß es mir unangenehm war, und trotzdem habe ich es ihm gesagt. Und du? Was wäre dabei gewesen, es ihm zu sagen? Schließlich ist es für ihn nur Routine. Keiner denkt dabei wirklich an einen von uns«, er unterbrach sich mit einem grunzen den Kichern.
Gabriel rührte sich nicht.
»Was suchst du da auf dem Teppich?« fragte Theo. »Warum antwortest du mir nicht?!«
»Theo«, bat Nita. »Hört auf. Ich kann das jetzt nicht ertragen.«
»Ich frage nur«, verteidigte sich Theo. »Wir streiten nicht, es ist keine Sache der ... der ... Ich will nur wissen, warum du es nicht sagen wolltest. Warum hast du ihm nicht gesagt, wo du warst?!«
Gabriel hob sein Gesicht empor. Das bärtige Gesicht, das von dem Licht hinter ihm braun, rötlich und weißlich erleuchtet wurde, sah aus wie eine zornige Maske. Sein Mund verzerrte sich, seine Lippen verzogen sich. »Was geht es dich auf einmal an?« fauchte er. »Was dich interessiert, sind deine Konzerte in Japan, daß wir nicht zu arbeiten auf hören, daß deine Pläne, Gott behüte, nicht gestört werden. Und wenn wir schon von deinen Plänen reden, dann vergiß nicht, daß du jetzt dein Bayreuth in Ruhe durchziehen kannst, keiner wird dir mehr im Weg stehen. Du mußt wissen, daß ich dir Vaters letzten Anfall nie verzeihen werde. Als du ihm von dem Wagnerfestival erzählt hast und er solch einen Anfall bekam! Du bist einfach weggegangen, hast die Tür zugeknallt, aber ich bin geblieben, um mich um das Sauerstoffgerät zu kümmern und so weiter. Hättest du nicht warten können, bis er ... bis er in Ruhe gestorben ist?! Du hast es ihm ja unbedingt sagen müssen, ihm von Wag ner erzählen müssen, und dann bist du gegangen. Wieso soll ich dir jetzt erklären, warum ich es nicht gesagt habe?!« Gabriel verbarg sein Gesicht wieder in seinen Händen, seine Schultern bebten. Immer wieder war seine erstickte Stimme, eine Mischung aus Weinen und Seufzen, durch
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