Ochajon 04 - Das Lied der Koenige
Profis einen Mord riskieren. Und hier geht es ja auch nicht um irgendeinen Picasso.«
»Aber es hat keine Mordabsicht bestanden, es war doch ein Unfall, ein Arbeitsunfall sozusagen.«
»Ich bin mir nicht so sicher. Selbst diesen ›Unfall‹ hätte man vermeiden können, wenn der Täter eingestiegen wäre, als van Gelden nicht zu Hause war. Es steht fest, daß es Profis waren. Die von der Spurensicherung haben gesagt, wer das Bild aus dem Rahmen gelöst hat, war ein Fachmann, einer, der wußte, was er in der Hand hielt. Nicht mal eine Faser der Leinwand ist im Rahmen zurückgeblieben. Es war übrigens gar nicht der Originalrahmen, sonst hät ten sie das Bild mit dem Rahmen mitgenommen. Van Gelden hatte das Bild den ganzen Krieg über versteckt. Es war sein Schatz. Im Krieg hat er sich mit seiner Frau und sei nem Sohn, der mitten im Krieg geboren wurde, in einem kleinen holländischen Dorf versteckt. Ein paar Dinge hatte er mitgenommen. Aber dieses Bild hat er mehr behütet als alle andere. Es war drei oder vier Generationen vor ihm schon im Besitz seiner Familie. Für ihn war es wie ... wie der Thoravorhang, den der Vater meines Großvaters aus der Synagoge seines Dorfes gerettet hat. Die Einbrecher ha ben es mit äußerster Vorsicht auseinandergenommen. Auch das Türschloß haben sie erst auseinandergeschraubt, nachdem sie schon auf anderem Weg in die Wohnung gelangt waren. Es stimmt, daß sie auch Bargeld und Schmuck an sich genommen haben. Und es trifft ebenfalls zu, daß die Wohnung auseinandergenommen worden ist und alle Papiere herumlagen, alle Schubladen ausgekippt und alle Bücher aus den Regalen gezogen worden waren, aber es steht außer Frage, daß das nur ein Ablenkungsmanöver war. Fingerabdrücke haben wir nur von Personen gefun den, die sich berechtigterweise dort aufhielten. Von seinen Söhnen, seiner Tochter, der Putzfrau, na ja, ich habe schon alle Experten flottgemacht, Gott und die Welt, es gibt nicht mal den Schatten eines Hinweises auf einen Verdacht. Absolut nichts. Nada. Nichts. Alle Spezialisten weit und breit haben Alibis und waren bei ihrer Familie oder bei anderen gesellschaftlichen Ereignissen. Niemand kommt in Frage. Der Enkel von Goslan feierte Bar-Mizwa«, kicherte Balilati melancholisch. »Alle waren da, und keiner hat was gehört. Sie hören sich für mich um, aber einer, der mir einen Gefallen schuldet, hat mir schon gesteckt, daß es keiner von hier war. Wenn es einer aus dem Ausland war, können wir nicht viel tun. Außer mit unserem Kontaktmann in Europa zu sprechen, der mit den Schweizern zusammenarbeitet und mit Interpol.«
Michael schwieg.
»Warum siehst du mich so an? Mit diesem Blick, als ob ich zum Verhör vorgeladen wäre?« lehnte Balilati sich auf. »Stimmt etwas nicht an dem, das ich dir erzähle?«
Michael schwieg.
»Hast du eine Frage?« sagte Balilati herausfordernd.
Michael wollte etwas antworten, aber er stützte sein Kinn auf die Hand und wartete. Sein Mund war trocken. Er wollte sprechen, aber er brachte kein Wort heraus. Er wollte mit einfachen Worten von dem Baby erzählen, aber auf einmal fand er den Ort nicht passend. Die Atmosphäre im Raum war drückend. Auf dem Tisch zwischen ihnen standen die Kaffeetassen, eine Fliege, die von Tasse zu Tasse flog, summte laut. Vögel zwitscherten vor dem Fenster, das für die frische Herbstluft offenstand. Dem Anschein nach war der Boden für ein Gespräch bereitet. Aber die Worte wollten ihm nicht über die Lippen.
Balilati verschränkte die Arme und sah ihn an. Sie saßen beide da, als folgten sie einer Regieanweisung, die Michael selbst einmal verfaßt hatte. Er hatte Balilati vor Jahren die Macht des Schweigens nahegebracht. Er selbst hatte die Theorie Schorers über den Rhythmus des Schweigens und die Früchte der Geduld, den Sieg dessen, der an seinem Schweigen festhielt, weiterentwickelt und verbessert. Er konnte sehen, wie Dani Balilatis graue Zellen arbeiteten und wie ihm eine innere Stimme zu schweigen gebot. »Die Menschen«, pflegte Michael zu sagen, wenn sie gemeinsam an einem Fall arbeiteten, »können in der Regel kein langes Schweigen ertragen. Sie wollen nichts anderes, als daß man sie mag. Alle wollen das, sogar Psychopathen, oder wenigstens die Mehrheit. Wenn du schweigst, wenn du die Kraft hast zu schweigen, sagen sie schließlich irgend etwas, damit du wieder mit ihnen redest.« Balilati sah in seine Augen und schwieg. Wenn nicht die Angst gewesen wäre, richtige Angst, die ihn lähmte, hätte
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