Ochajon 04 - Das Lied der Koenige
unseren Gepflogenheiten. In diesem Fall gibt es ein paar Einzelheiten, die ich nicht verstehe«, dachte er laut, »beispielsweise, daß er gar keinen Zahnarzttermin hatte.« Er schaute in seine Kaffeetasse, auf deren Boden Satz klebte. »Van Gelden hatte keinen Termin, aber seinen Kindern hat er gesagt, daß er einen Termin hätte. Wo war er also? Mit wem hat er sich getroffen? Ich habe die Kinder gefragt, wer in Frage käme. Sie wußten nicht allzuviel über ihn. Nicht einmal sein zweiter Sohn Gabriel, der ihm am nächsten stand.«
»Was meinst du denn, wo er war?« fragte Michael. Es kribbelte ihm in den Fingerspitzen, als ob seine Hand eingeschlafen wäre.
Balilati breitete die Arme aus. »Ich habe keine Ahnung«, deklarierte er mit einem Lächeln. »Ich weiß auch nicht, wie ich diese Tatsache beurteilen soll. Man könnte meinen, daß man über einen Menschen wie ihn, in seinem Alter, dessen Kinder im Rampenlicht stehen, mehr wüßte. Er war derjenige, der alles über alle wußte. Genau wie in seinem Laden. Nur er wußte letztendlich bis ins kleinste Detail, wo was zu finden war. Man mußte immer auf ihn warten, ihn fragen, denn das war es, was er im Grunde wollte. Dadurch hatte er eine Machtposition. Er war Holländer, aber er hatte eine Jecke-Seele. Er war einer von denen, weißt du, die schon im mer Pazifisten waren. Aber er machte nie Geschäfte mit den Deutschen. Er und sein Herzl, der wie eine Krauthexe aussah und dem die Haare zu Berge standen«, Balilati rollte einen Bogen Papier zusammen und richtete ihn auf seiner Stirn auf, »etwa so. Dieser Herzl hat vor einiger Zeit dem Geschäft den Rücken gekehrt. Ich weiß nicht, worüber sie sich nach vierzig Jahren gestritten haben, auch keines von van Geldens Kindern weiß, worum es ging. Ich habe dir schon gesagt, daß ich versuche, ihn aufzuspüren. Vielleicht weiß er was.«
»Was könnte er wissen, der Laden ist doch schon ein halbes Jahr geschlossen.«
»Frag mal seine Tochter. Dieser Herzl war Teil der Familie. Er besaß einen Haustürschlüssel.«
»Er kommt also auch als Täter in Frage«, staunte Michael.
»Keiner weiß, wo er sich herumtreibt«, sagte Balilati. »Die Kinder behaupten, daß er unmöglich etwas mit der Sa che zu tun haben kann. Man konnte sich hundert Prozent auf ihn verlassen. Er soll sowieso einen Sprung in der Schüs sel haben. Ihn interessierte angeblich kein Geld und auch nicht das Bild ... Sie haben es ganz weit von sich gewiesen, man konnte sehen, daß sie es nicht im geringsten für möglich halten. Sag mir jetzt nicht, daß man schon Pferde kotzen sah. Ich suche ihn ja, ich habe es dir schon gesagt.«
»Um welche Uhrzeit ist er genau gestorben? Was sagte der Gerichtsmediziner?«
»Der Gerichtsmediziner kann bis jetzt nur sagen, daß es am Nachmittag war, vielleicht um 16:00 Uhr, um 16:30 Uhr. Um fünf, um sechs, auf jeden Fall vor sieben.«
Michael rang mit sich. In gewisser Weise war die nächste Frage ein Verrat: »Wo waren seine Kinder zur Tatzeit?«
»Du weißt, wo sie war«, blähte Balilati die Lippen, »beim Friseur.«
»Und die anderen?«
Balilati verengte die Augen, drückte auf das Feuerzeug und überprüfte die Flamme. »Warum hängst du dich in den Fall?« sagte er unwirsch, hob den Kopf und sah Michael fest an. »Keiner zwingt dich dazu. Willst du es denn tatsäch lich?«
Michael zuckte die Schultern.
»Theo van Gelden steckt jeden stadtbekannten Hurenbock in die Tasche, Pardon, ich weiß, daß du dieses Wort nicht magst. Alle Lustmolche der Stadt. An besagtem Nachmittag traf er sich mit einer Fünfzigjährigen und anschließend mit einer Neunzehnjährigen. Beide hat er ...« Sein Stoßen der Handfläche gegen den Ellbogen war unmißverständlich und ließ keinen Zweifel an Theos Aktivitäten offen. »Und sein Bruder, sein Bruder ist ganz anders.« Balilatis Gesicht wurde finster.
»Er wollte nichts erzählen«, verriet er Michael.
»Er wollte nichts erzählen, denn er wollte nicht, daß seine Geschwister davon erfuhren. Er hat sich angeblich mit dem Anwalt seines Vaters getroffen. Beide, sowohl der Rechtsanwalt als auch er, weigern sich, sich darüber auszulassen. Momentan habe ich keine Handhabe, sie dazu zu zwin gen.«
»Es gibt da einen Schotten ...«, sagte Michael.
Balilati klopfte auf den Tisch. »Ich habe von ihm gehört. Sein Name ist McBridy«, sagte er. »Schon in der Nacht nach der Tat habe ich von ihm erfahren, aber es hat sich herausgestellt, daß er in einem Krankenhaus in
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