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Ochajon 04 - Das Lied der Koenige

Ochajon 04 - Das Lied der Koenige

Titel: Ochajon 04 - Das Lied der Koenige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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lag, kam er langsam wieder zu sich. Er zwang sich, die Leiche zu betrachten. Ein zweites Mal. Der zweite Blick unterschied sich erheblich vom ersten Anblick, der durch das Entsetzen zunächst oberflächlich und verschwommen und anschließend nicht nüchtern genug gewesen war. Dieses Mal sah Michael den toten Gabriel schon wie eine gewöhnliche Leiche an, wie einen Fall, denn er wußte bereits, was ihn erwartete. Als er ihn zum zweiten Mal betrachtete, sagte er sich, daß er es durchstehen würde, daß Gabriel nichts weiter als ein Fall war. Aber an Nita wagte er nicht mehr zu denken. Für einen Moment sah er ihr Gesicht vor sich, und er schloß die Augen, als wolle er sie verjagen, als wolle er ihr sagen: »Jetzt nicht«, als schiebe er die Erinne rung an ihre Existenz beiseite und lege sie gewaltsam auf Eis – dazu war in der Tat Kraft erforderlich.
    Die Ärztin des Roten Davidsterns, die schon vor der Polizei gerufen worden war, verhielt sich, als hätte sie nur auf ihn gewartet, um eine vertraute Geste zu wiederholen – das Auseinanderbreiten der Arme zu einer Gebärde der Hilflosigkeit und ein Klopfen auf ihre schweren Schenkel. »Ich habe ihn so vorgefunden. Es war nichts mehr zu machen. Ich habe ihn nicht bewegt, ich habe ihn kaum angefaßt«, versicherte sie und beeilte sich, Nitas Reaktion zu schildern, die sie als »pathologisch hysterischen Anfall« bezeichnete. Sie detaillierte: »Sie schrie und schrie und schrie. Wir konnten das Schreien nicht zum Stillstand bringen.« Das Entsetzen und der Anflug von Kritik, der der Schilderung anhaftete, waren nicht zu überhören. Während sie berichtete, wiederholte sie ständig, so etwas habe sie noch nicht erlebt. Dann sagte sie: »Ich habe ihr schließlich eine Spritze gegeben. Die beiden hier mußten mir helfen und sie festhalten.«
    Die junge Ärztin zeigte auf zwei Jugendliche, die in der Ecke des schmalen Flurs standen, neben den Eisenschränken, die den Durchgang zum nächsten Flügel verstellten, der breiter war und in dem sich, wie sich herausstellte, die Räume des Dirigenten und der Orchesterdirektion befan den. »Es sind freiwillige Helfer. Sie haben so etwas noch nie gesehen«, sagte sie vorwurfsvoll. »Für einen Sechzehnjährigen ist es noch ein bißchen früh«, fügte sie hinzu. Einer der Jungen, die dort standen, zeigte ein maskenhaftes Lächeln, das nicht aus seinem Gesicht wich, und der zweite lehnte sich mit dem Rücken zu ihnen gegen einen Eisenschrank.
    Der erste Geiger erschien hinter der Biegung des Flurs, drängte sich an den Eisenschränken vorbei und bewegte sich taumelnd vorwärts. Auch er drehte den Kopf ab, als er die Leiche passierte. Er war es, der die Ambulanz und später die Polizei alarmiert hatte. »Ich wußte nicht ... Ich wußte nicht, ob er wirklich tot ist, ich dachte, man könnte vielleicht noch etwas machen«, entschuldigte er sich.
    Schwere Schritte waren hinter der dünnen Mauer zu hören, die die Bühne von der Hinterbühne trennte. Keu chend erschien der Gerichtsmediziner. Seine Atemzüge klan gen wie ein Summen, dachte Michael, als er widerwillig feststellte, daß Elijahu Solomon Bereitschaftsdienst hatte. Solomon folgten die beiden Kollegen von der Spurensicherung. Michael fragte sich, ob zwei Leute ausreichen würden. Er erkannte schweigend die Schnelligkeit an, mit der sie trotz des Verkehrsstaus eingetroffen waren.
    Auch sein Weg durch die King-David-Straße war versperrt gewesen und hatte ihn schließlich gezwungen, an einer Ampel des Mamilla-Viertels die Sirene einzuschalten, um sich zum Musikzentrum einen Weg zu bahnen. Er hatte die Skelette der prachtvollen Gebäude begutachtet, die auf den Trümmern des alten Viertels in die Höhe schossen. Im mer wenn er sein Auto an der Kreuzung anhielt, staunte er – mitunter begleitet von Unmut über die Veränderung des Stadtbildes, das sich hinter der Ampel den Augen bot. Er sah nach links zum Moslemischen Friedhof und nach rechts zum Palace Gebäude, dem runden prachtvollen Bau, der das Wirtschaftsministerium beherbergte, und registrierte erleichtert, daß beide noch standen. Seit Monaten verfolgte er die systematische Zerstörung der alten Bausubstanz. Wie ein einzelner Zahn in einem alten Mund war nur das Gebäude verschont geblieben, das Herzl einmal besucht hatte. Wie ein Gebiß, das in weißem Porzellan glänzte, standen nun die schicken Bauten da, und ein großes Schild verhieß: »Die Paläste Davids«.
    Man hatte ihn über Funk gerufen, als er schon auf dem

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