Ochajon 04 - Das Lied der Koenige
Gepflogenheiten im Bilde. Sicher hat sie zu Hause noch ein paar.«
Ein lautes Seufzen und ein kurzes Wimmern aus Richtung Sofa ließen beide erstarren. Aber nach dem Wimmern öffneten sich Nitas Augen nicht, die ihre Beine unter der Wolldecke ausstreckte und erneut an ihren Bauch zog. Ein paar Sekunden dauerte das Schweigen in wartender Position, und als klar war, daß sie wieder schlief, stellte Michael leise die Frage, deren simple Formulierung ihn schon immer gestört hatte: »Ihr Bruder, hatte er Feinde, jemand von dem Sie wußten?«
»Ich habe in der letzten Stunde nachgedacht, wer so et was hätte tun können ... tun wollen ... Keine Ahnung«, sagte Theo und setzte sich wieder an den Schreibtisch auf den gepolsterten Stuhl. Er streckte die Hände aus und sah sie an, betastete nacheinander seine Handgelenke, die breit und groß wie die von Nita waren. Michael warf einen verstohlenen Blick darauf. Er überprüfte automatisch, ob sie Schnittspuren aufwiesen. Aber Theo van Geldens Hände, wie die von Nita und wie die des ersten Geigers und die der beiden anderen Musikerinnen, waren glatt und unversehrt. »Sie haben ihn doch gesehen.« Theo breitete die Arme aus: »Man kann nicht sagen, daß er wirkliche Feinde hatte. Ich zum Beispiel habe Feinde, und nicht einmal wenige«, kicherte er. »Ich muß mich wundern, daß ich es nicht bin, der dort liegt«, verkündete er und zeigte mit dem Kopf auf die Tür. Sein Gesicht wurde wieder ernst. Er fuhr mit beiden Händen über sein Gesicht und betrachtete erneut seine Handflächen. »Es hat in letzter Zeit Spannungen gegeben wegen Änderungen, die er in seinem Ensemble einführen wollte. Sie wissen, daß er ein historisches Barockensemble gegründet hat. Er war ein großer Perfektionist. Es gab ein Gerangel um die Positionen. Sie können sich nicht vorstellen, was für einen Wirbel Musiker veranstalten, was sie alles stört und so weiter. Er hatte verschiedene Pläne darüber, wer bei ihm spielen würde und wer nicht. Wie bezahlt würde und wieviel an wen. Und er hat alle möglichen Vergütungsmodelle in Erwägung gezogen, die er von einem Londoner Orchester übernommen hatte. Ein Orchester, das man umgekehrt bezahlt. Je weniger Proben es gibt, desto mehr bezahlt man, etwas, was die Musiker dazu anspornt, viel zu Hause zu arbeiten. Bei uns gibt es das nicht. Keiner arbeitet daheim. Denn je mehr Proben stattfinden, desto mehr Überstunden gibt es. Es gab eine Menge Beschimpfungen und Ärger. Natürlich, aber richtige Feinde? Um so etwas zu erklären?!« Er huschte mit seiner Hand über seinen Hals.
»In dem Doppelkonzert, an dem Sie arbeiteten, sollte da nicht der erste Geiger Awigdor den Solopart spielen?«
»Eine erste Geige muß nicht zwingend den Solopart spielen. Es ist überhaupt ziemlich selten, insbesondere in der romantischen Musik, daß man für einen Solopart, selbst wenn er einer von zweien ist, den ersten Geiger nimmt. Ich auf jeden Fall sehe darin solch eine individuelle solistische Aufgabe, daß man sie nicht in die Hände eines Konzertmeisters legen kann, so gut und tüchtig er auch sein mag.«
»Aber in ihrem letzten Konzert, dem mit der Ouvertüre zu ›Wilhelm Tell‹, spielte Gabriel doch die erste Geige.«
»Und? Na und?« fragte Theo ungehalten.
»Denken Sie nicht, daß so etwas in einem festen ersten Geiger Verbitterung auslösen kann? Awigdor ist doch der feste erste Geiger, nicht wahr?«
»Ja, ja«, sagte Theo ungeduldig. »Aber es gibt eine ganze Gruppe von ersten Geigern, manchmal sind es drei, ich habe zwei, und ein Gehalt bekommt er nach der ersten Geige, auch wenn jemand von außen ... Außerdem hat es Awigdor gefreut, daß Gabi spielte. Er hat es als große Ehre angesehen.«
»Manchmal frage ich mich, wie einer fühlt, der Teil eines Orchesters ist. Wenn sein Ton immer wieder in allen Tönen aufgeht. Wenn er immer wieder zwei Noten wiederholt. Wieviel Frustration muß es bringen, wenn man dort sitzt und wartet, daß man an die Reihe kommt, um mit allen zusammenzuspielen und ...«
»Sie haben romantische Vorstellungen von diesen Dingen«, fiel Theo ihm ins Wort. »Ich sage nicht, daß man nach zwanzig, dreißig Jahren nicht aufgerieben ist. Aber im großen und ganzen ist die Arbeit völlig in Ordnung. Wenn man eine Arbeit mit Spannung und Aufregung verrichtet, vergißt man diese Dinge. Sie können es bei dem Chicago Symphony Orchestra sehen. Dort fühlt sich keiner überflüssig. So ist das, wenn ein Orchester richtig gut ist. Und in
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