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Ochajon 04 - Das Lied der Koenige

Ochajon 04 - Das Lied der Koenige

Titel: Ochajon 04 - Das Lied der Koenige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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»Ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll. Auf einmal lauert überall der Tod. Jemand muß mir sagen, wie und was ich tun soll. Ich komme mir wie in einem Horrorfilm vor. Als ob ich gar nicht hier wäre.«
    Während Michael die Zigarettenschachtel aus seiner Brust tasche zog, eine Zigarette herausnahm und auf das große Fenster zuging, setzte sich Theo an den Schreibtisch, verschränkte seine Arme und sah auf das Porträt von Leonard Bernstein. Bernsteins Gesicht trug den Ausdruck von Schmerz und Vergnügen, sein Kopf war in den Nacken geworfen, und seine Hände, die den Taktstock hielten, waren vor seiner Brust gefaltet. Das Photo hing an der Wand neben dem Fenster, genau gegenüber der Aufnahme eines großen Orchesters während eines Konzerts: Der Dirigent, der auf einem Podest in einem Rollstuhl vor dem Orchester saß und seine mageren Arme hob, war nur von hinten zu sehen. Die Photographie schien das Zittern seiner Arme festgehalten zu haben.
    Das große Fenster, vor dem Michael stand, blickte auf die Mauern der Altstadt. Von hier aus sah man auch einen Teil des King-David-Hotels. Er betrachtete die Landschaft und die Rauchwolke, die er ausstieß und fühlte sich für einen Augenblick durch und durch unentschlossen. Er wußte, daß es besser wäre, wenn er in die Eingangshalle zurückging, wenn er die Ermittlung schon jetzt in die Hand nahm, wenn er mit eigenen Augen nach Schnitten in den Fingern forschte.
    Am Ende der Straße parkten schon zwei Streifenwagen, in denen die undeutlichen Umrisse uniformierter Polizisten in gelangweilter Erwartungshaltung zu erkennen waren. Er dachte an die Leiche, die in einen glänzenden schwarzen Plastiksack gewickelt, auf eine Bahre gebunden und in den Krankenwagen geschoben worden war, auf dessen Beifahrersitz sicherlich Solomon saß und dem Fahrer Erkenntnisse über das Leben und die Welt in die Ohren säuselte. Im Grunde wartete er auf Dani Balilati, als beginne mit dessen Eintreffen die Arbeit erst richtig. Ein zweifelndes Staunen über dieses Warten auf Balilati nagte an ihm, und er wunderte sich darüber, daß die Anwesenheit Balilatis ihm eine gewisse Lösung zu sein schien.
    Er kehrte dem Fenster den Rücken zu, stellte sich vor die große Aufnahme des Orchesters mit dem Dirigenten im Rollstuhl und betrachtete den gebeugten, gerundeten Rücken. »Wer ist der Dirigent?« fragte er Theo. Theo hob seinen zerstreuten Blick. »Strawinski, im Hejchal Hatarbut vor ... mehr als dreißig Jahren, es war 1961«, sagte er und betrachtete die Photographie wie einen alten Bekannten, den er seit Jahren nicht mehr getroffen hatte.
    »Ich wußte gar nicht, daß er mal in Israel war«, sagte Michael überrascht.
    »Einmal, kurz vor seinem Lebensende. Er hat ›Le sacre du printemps‹ dirigiert. Ich war einundzwanzig, fast zweiundzwanzig.« Theo lächelte und fixierte seine Hände. »Er war wie ein Sack. Man hat ihn auf die Bühne gehievt wie einen Sack. Bis er zu dirigieren begann. Dann war er ... ganz und gar nicht mehr unbeweglich«, kicherte er. »Überwältigend war er, es war ein Schock. Wegen dieses Konzerts – gut, nicht nur wegen eines Konzerts, aber dieses Konzert war eine Art Wendepunkt – beschloß ich, Dirigent zu werden.« Er schüttelte den Kopf, als wolle er die Erinnerung vertreiben, und sah Michael an, der ihm jetzt in aller Kürze die Zusammenfassung der Fakten vortrug, wobei er darauf achtete, Gabriels Position vor dem Mord nicht zu beschreiben und das Wort Saite nicht zu erwähnen. Unter die übrigen Fragen mischte er unauffällig die Frage nach Nitas Cello. »Ich verstehe, daß es ein sehr teures Instrument ist«, sagte er und ließ einen raschen Blick über Theos Gesicht hu schen, der erwiderte: »Ja, es gibt nur ein paar Exemplare auf der Welt.«
    »Ich habe es nicht im Saal gesehen«, sagte Michael. »Hat sie es irgendwo stehenlassen?«
    »Es ist hier, im Schrank hinter der Tür«, sagte Theo mit träumerischem Gleichmut. »Sie hat es hier deponiert, nachdem wir mit der Probe fertig waren, bevor ...« Michael, der befürchtet hatte, daß jede Frage nach den Saiten aufdecken könnte, was er verbergen wollte, drückte den Zigarettenstummel auf dem rostigen Blechdeckel auf der Fensterbank aus und ging zum Schrank. Er schob die braune Schiebetür auf, und sein Blick fiel auf einen Notenstapel, der herauszugleiten drohte. Auf dem Boden des Schranks, der die Wand hinter der Tür bedeckte, unter den Säumen eines langen Mantels, stand der bekannte Kasten. Michael

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