Ochajon 04 - Das Lied der Koenige
Berlin, gut, in Berlin sowieso, es ist das einzige Orchester, dessen Musiker pro Konzert bezahlt werden. Sie teilen sich die Einkünfte und finanzieren im Prinzip ihren Dirigenten. Alle möglichen Geschichten passieren da. Nur manchmal gibt es Orchester, vor allem hier, die sich wie ein gewerkschaftlicher Betrieb aufführen. Natürlich ist es noralerweise Routine, eine Ar beit wie jede andere, und es gibt Verbitterung und Probleme und Forderungen und Änderungswünsche und Berechnungen und Klagen, aber nicht in diesem Fall. Und überhaupt, es ist abhängig vom Dirigenten. Ein guter Dirigent kann ein Orchester aufbauen, es mitreißen. Haben Sie Awigdor gese hen? Ist er in der Lage, einen Mord zu begehen? Auf gar kei nen Fall, nicht auf diese Weise ...«
»Ich weiß nichts über Gabriels Privatleben«, sagte Michael. »Nita hat nie von einer Familie gesprochen. Ich weiß nicht einmal, ob jemand benachrichtigt werden muß. Ich erinnere mich nur, daß sie erzählt hat, daß er einmal verheiratet war, vor langer Zeit, und daß er keine Kinder hat. Aber vielleicht lebt er mit jemandem zusammen. Er hat vielleicht eine Beziehung zu einer Frau. Man muß sie benachrichtigen.«
»Von was für einer Familie sprechen Sie«, winkte Theo ab und preßte die Lippen zusammen. »Wir sind seine ganze Familie.«
»Vielleicht seine Ex-Frau, was weiß ich?«
»Sie lebt schon seit mehr als sieben Jahren in Deutschland«, sagte Theo. »Sie hatten keinerlei Kontakt. Und wir – wir schon gar nicht. Sie ist eine Schreckschraube«, stieß er hervor. »Sie ist vulgär und geldgierig, und sie hat immer nur Probleme gemacht. Unter all meinen Frauen finden Sie keine von der Sorte. Sie müssen wissen«, hob er die Stimme und winkte mit dem Zeigefinger, »ich hatte nicht wenige. Was Frauen anbelangt, so kenne ich mich aus«, versicherte er, ohne zu lächeln. »Die beiden hatten keine Kinder, also gibt es auch niemanden, den man benachrichtigen müßte. Eine nennenswerte Verwandtschaft gibt es auch nicht.« Er senkte die Stimme zu einem zaghaften Flüstern und senkte die Augen. »Aber da ist ... da ist ... man muß vielleicht Isi informieren.«
»Isi?« wiederholte Michael. »Wer ist Isi?«
»Er ist ... er ... er wohnt bei Gabi, sie teilen sich eine Wohnung«, sagte Theo, stand auf und steckte die Hände in die Taschen.
Es war nicht der Moment für Taktgefühl. »Hat Ihr Bru der mit einem Mann zusammengelebt? Bedeutet das, daß sie zu sammen wohnten, daß sie zusammenlebten? Reden Sie von einer homosexuellen Beziehung?«
»Ich denke, ja«, sagte Theo und marschierte weiter, doch diesmal sah er nicht auf den Teppich, sondern starrte auf das Fenster und räusperte sich, bevor er sagte: »Ich habe ihn nie direkt danach gefragt, aber es war nicht nur eine Wohngemeinschaft. Ich habe kein Problem damit. Absolut kein Problem. Jeder kann leben, wie er es für richtig hält. Mich stört das ganz und gar nicht. Es gibt viele homosexuelle Künstler, Musiker, Sie würden kaum glauben, wie viele es sind. In meiner ersten Zeit in New York konnte ich es nicht fassen, wie zahlreich sie waren. Sogar Copland und Mitropoulos und natürlich ...« Er sah auf die Photographie von Bernstein. »Kurzum, in unserem Bereich ist das nichts Ungewöhnliches, es hängt vielleicht sogar prinzipiell damit zusammen.«
Es war so natürlich und selbstverständlich, daß niemand darüber sprach, nicht einmal Nita, dachte Michael, als er fragte: »Ist das der Mann, den ich gesehen habe, als ihr Va ter ... Der Mann, der während der Trauerwoche mit Ga briel bei Nita war, so ein kleiner, hellhäutiger Mann.«
»Ach so«, nickte Theo mit dem Ausdruck der Erleichterung, »dann haben Sie ihn schon kennengelernt. Die beiden wohnen seit mehr als zwei Jahren zusammen«, erklärte er. »Aber wir haben nie darüber gesprochen. Wir haben keine große Sache daraus gemacht, obwohl ich mir sicher bin, daß es für Vater nicht einfach war.« Er seufzte. »Jetzt ist das alles eine Farce«, flüsterte er und stieß ein heiseres Kichern aus. »Der Tod ordnet die Dinge neu.«
»Dann hat Ihr Vater also davon gewußt.«
»Ich bin sicher«, sagte Theo, »aber er sprach nie darüber.«
»Nita hat auch kein Wort darüber verloren.«
Theo zuckte mit den Achseln. »Vielleicht, weil er in der letzten Zeit nicht hier war. Und im übrigen, reden Sie denn über alles miteinander?«
»Wer war in der letzten Zeit nicht hier?«
»Isi. Vielleicht hat sie ja vergessen, es zu erwähnen«, sagte er, und er
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