Ochajon 05 - Denn die Seele ist in deiner Hand
Schädelraum ein und beförderte eine trübe Flüssigkeit zutage, die er in ein transparentes Plastikbehältnis leerte. Danach versah er es mit einem Schraubdeckel, schrieb Datum und Uhrzeit darauf und stellte es beiseite.
»Kommen Sie, helfen Sie mir beim Herausnehmen«, sagte Dr. Solomon nun zu ihm, »Sie wissen, dass alle inneren Teile, von der Zunge bis zum Dickdarm, miteinander verbunden sind, ja?«
Michael spürte Ja’irs gehorsames Nicken und dachte an die Begeisterung des jungen Wachtmeisters, bei einer Obduktion dabei zu sein.
»Das ist Teil der Arbeit, ich hätte schon am Anfang bei so was dabei sein müssen, aber Sie haben gesagt, das bräuchte es nicht mehr«, hatte er auf dem Weg dorthin argumentiert, als Michael ihn vor dem Anblick der nackten Leiche im Obduktionssaal warnte. »Es ist nicht nur die Leiche, die seziert wird«, hatte er ihm auseinander gesetzt, während er sich eine Zigarette anzündete, »es ist auch das ganze Drumherum. Auf der grünen Wiese draußen ist alles wunderbar, auch im Eingangsgeschoss, aber wenn man ein paar Stufen in den Keller hinuntergeht, sieht man schon diese ganzen Leichen, die dort liegen und auf ihre Obduktion warten, und sie sind nicht immer zugedeckt.«
»Ich habe schon so viele Kühe und Pferde gesehen, glauben Sie mir, es ist nicht einfach, eine Stute anzuschauen, die man selber aufgezogen hat, mit ausgestreckten Beinen, mausetot. Und war ich da vielleicht nicht bei den Obduktionen dabei, um zu sehen, was ihnen gefehlt hat?«
In väterlichem Ton merkte Michael an, dass es trotz allem einen gewissen Unterschied zwischen Tieren, so sehr man sie auch lieben mochte, und Menschen gebe.
»Ich habe die Frau ja nicht mal gekannt«, beharrte Ja’ir.
Michael fragte sich, ob er die Sache weiter verfolgen sollte, denn früher oder später würde der Wachtmeister einmal bei einer Obduktion dabei sein müssen. Dennoch ertappte er sich dabei, dass er sagte: »Man fängt an, an sich selbst zu denken«, und wie er dem Jungen, der genau im gleichen Alter wie sein Sohn war, erneut in väterlichem Ton zu erklären versuchte: »Das lässt einen nicht kalt.«
»Warum soll es einen denn kalt lassen?«, meinte Ja’ir erstaunt, »muss es doch nicht, wieso denn auch? Das ist doch erschütternd, und noch dazu so ein junges Mädchen. Wenn es erschütternd ist, dann sollte man betroffen sein, das ist ganz normal. Daran stirbt man nicht.«
Gerade die Schlichtheit dieser Worte ließ Michael verstummen und brachte ihn dazu, sich seiner ersten Jahre bei der Polizei zu entsinnen, in denen er sich immer wieder bemüht hatte, solchen Obduktionen »würdig zu begegnen«, ganz besonders innerhalb der ersten Minuten. Die Konzentration, die nahezu wissenschaftliche Neugier, die er sich letzten Endes antrainiert hatte, verbuchte er auf das Konto seines angestrengten Kampfes gegen das Gefühl, betroffen zu sein, von dem er schnellstmöglich Abstand nehmen wollte. Ja’irs Worte und seine Art, die Welt mit einem unschuldigen und unversehrten Blick zu betrachten, versetzten ihn in Erstaunen, und er fragte sich wieder einmal, warum es diesen Dorfjungen aus dem Moschav zur Kriminalpolizei verschlagen hatte. Zweimal hatte er ihn direkt danach gefragt, aber Ja’ir war eine Erklärung schwer gefallen. Auf Balilatis ungenierte scharfe Fragen – »Warum bist du nicht in eurem Moschav geblieben? Wenn du ein solcher Bauer bist, warum hast du dann nicht Landwirtschaft studiert?« – pflegte Ja’ir mit einem verträumten Lächeln zu antworten, das sein sonnengebräuntes Gesicht in die Breite zog und seine dunkelbraunen Augen schmal werden ließ. »So ist es eben gekommen«, sagte er dann, bestenfalls, und zuckte die Achseln.
Wenn Balilati diese Antwort erhielt, stieß er ein geräuschvolles Schnauben aus, das bedeuten sollte, »ist doch keine Antwort«. Doch Ja’ir lächelte nur und schwieg.
»Er ist ein bisschen plemplem, dein Dorfbuddha«, hatte Balilati einmal bei einer Einsatzbesprechung geknurrt, einen Moment nachdem Ja’ir den Raum verlassen hatte, um Kaffee zu holen.
»Er ist süß«, sagte Zila damals darauf, »einfach bezaubernd.«
Eli Bachar heftete einen durchbohrenden Blick auf sie: »Bezaubernd?! Was ist denn an ihm bezaubernd? Jeder kann viel schweigen, lächeln und mit diesem Blick dreinschauen, was ist daran bitte bezaubernd?«
Doch Zila kicherte und schüttelte mit anmutiger Geste ihren Kopf, was ihre langen Silberohrringe zum Schaukeln brachte: »Ihr seid einfach eifersüchtig,
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