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Ochajon 05 - Denn die Seele ist in deiner Hand

Ochajon 05 - Denn die Seele ist in deiner Hand

Titel: Ochajon 05 - Denn die Seele ist in deiner Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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Talent findet man nicht auf der Straße«.
    Damals bemerkte Natanael zum ersten Mal die Fülle ihrer rötlichen Locken, das blaue Strahlen ihrer Augen, ihre rundlichen Arme, ihre Waden, von denen die große Galabija nur wenig frei gab, und all das zusätzlich zu ihrer großzügigen Herzlichkeit. Eines Nachts, nachdem er sie gegen Abend aus Nissims Lebensmittelladen an der Bethlehemer Landstraße hatte treten sehen, nachdem er mit seinen Kindern gespielt und mit ihnen gegessen hatte und auch mit seiner Frau ein paar Worte gewechselt hatte, hatte er einen Traum von ihr: Der Lebensmittelladen war ein runder Platz, in dessen Zentrum sich ein kleines Becken oder eine Quelle oder ein Brunnen befand oder vielleicht auch ein großer Behälter oder sogar eine Tonne von der Sorte, wie sie in den Tagen der Belagerung Jerusalems benutzt worden waren, und Linda stand dort in ihrer Galabija mit einem wassertropfenden Tonkrug oder einer Kanne in den Händen. Als er sich ihr näherte und ihr Gesicht berührte, lächelte sie und neigte das Gefäß zu seinem Mund. Natanael Baschari, der sich nur höchst selten an seine Träume erinnerte, erwachte aus diesem Traum mit einer sel ten strahlenden Empfindung und begriff, dass er verliebt war. Und als er sich darüber wunderte, dass er ein so biblisch romantisches Bild zu träumen vermochte, fiel ihm ein, wie er selbst einmal Nis sims Laden als Dorfbrunnen bezeichnet hatte, um den herum sich die Bewohner des Viertels versammelten und Informationen aus der Nachbarschaft oder aus Stadt und Land austauschten.
    Vor fünf Jahren hatte er sie zu dem alten Synagogengebäude gebracht, um sie an seiner Vision teilhaben zu lassen, und als sie sich an der klassischen Symmetrie der viereckigen Fenster mit den bröckelnden Rahmen, an der Höhe der Decke und der noch originalen Tür begeisterte – »es ist mir gar nie aufgefallen, perfektes Bauhaus« –, ertappte er sich dabei, wie er über ihren glatten, milchweißen Arm strich, und da erkannte er auch, wie hin gezogen er sich zu ihr fühlte. Jener Besuch hatte zu einer anhaltenden Beziehung geführt, und seine Schuldgefühle wurden jedesmal von Angstwellen abgelöst, wenn er an die Zukunft und seine immer stärkere Abhängigkeit von Linda dachte. Aber da sie ihn nicht bedrängte, sein Leben zu ändern, und nichts von ihm verlangte, nicht einmal andeutungsweise, wusste er nicht einmal, ob sie auf seine Frau eifersüchtig war oder ob sie mit ihm zu sammenleben wollte. Des Öfteren fragte er sich, ob seine Schwes ter über die Natur ihrer Beziehung Bescheid wusste und über ihren Anteil daran, doch Linda ließ diese Frage mit einem Lachen offen, hielt eine kleine Rede zum Lob der Diskretion, zu der alle Makler verpflichtet seien, und fragte ihn, ob er nicht im Grunde wollte, dass sie mit Zohra über ihn spräche.
     
    Als er sich dem Tor der Synagoge näherte, sah er ein Pappschild mit zwei handschriftlichen Zeilen, die mitteilten, dass infolge der allgemeinen Lage der Bauernmarkt ausfiele und nicht wie geplant an Sukkot auf dem Platz dahinter stattfände. Vielleicht war es ja wirklich besser – er starrte weiter auf das Schild –, wenn Zohra heute Abend nicht sänge, viele würden es ohnehin vorziehen, aus Angst vor Anschlägen zu Hause zu bleiben, und auch die, die zum Gebet kämen, würden gedrückter Stimmung sein. Es war besser, sie sang eine Woche später, zu Simchat Thora, am letzten Tag von Sukkot, denn vielleicht klärte sich die Lage bis dahin und die Unruhen würden aufhören. Der Johannisbrotbaum im Hof sah krank aus, doch statt der Diagnose, die ihm Neta, die Gärtnerin, gestellt hatte, die sie freiwillig beriet, drängte sich ihm nun das Wort »aussätzig« auf die Zunge, und erschrocken vom Klang seiner eigenen Stimme ging er schnell in das Gebäude hinein.
    Er stand vor dem Thoraschrein und betrachtete die Überraschungstütchen, die vor die Türen gelegt worden waren. So musste ein Leben aussehen, in dem es Tradition und Harmonie gab – dass es in einer Synagoge möglich war, Überraschungstüt chen für die Kinder anlässlich des Festes vorzubereiten und sie zu Füßen des Schreins zu legen, mit glänzend roten Äpfeln und Fähnchen, mit denen die Kinder um die Thorarollen herumtan zen würden. Er bückte sich und hob ein Fähnchen zuoberst auf dem Haufen auf, öffnete abwesend das Kartonfenster auf der Vorderseite und berührte die Gold- und Silberbrösel, die zum Vorschein kamen: Sie waren über das Gesicht eines Jungen mit Kipa

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