Ochajon 05 - Denn die Seele ist in deiner Hand
würde ich zuallererst sagen – Vitalität. Eine solche Vitalität sieht man nicht alle Tage, jetzt nicht mal in Zusammenhang mit ihrer Lebensfreude, schlicht und einfach Vitalität. Ich kann sie mir nicht als ...« Er senkte den Kopf, und ein Schauer lief über seinen Rücken, und als er sein Gesicht wieder hob, waren seine Züge immer noch starr vor Entsetzen. »Ich glaube es einfach nicht«, sagte er, »ich kann es nicht glauben. Um zwei, um zwei hätte ich mich mit ihr ... ich habe mich mit ihr bei der Synagoge verabredet ... ich hatte sie eine Woche lang nicht gesehen ... sind Sie sicher, dass es nichts mit dem momentanen Terror zu tun hat? Was weiß ich? Es treiben sich hier diese ganzen Palästinenser herum, die uns die ganze Zeit hassen, es gab niemanden auf der Welt, der sie gehasst hätte ... wer kann Zohra ... ermorden ...«
Plötzlich straffte er sich und presste einen Augenblick schwei gend die Lippen aufeinander. »Ich verspreche Ihnen, wenn Sie den, der das getan hat, nicht finden« – seine Stimme wurde scharf –, »mache ich mich selbst auf die Jagd, und ich werde ihn finden, das schwöre ich.«
Nach und nach stellte sich heraus, dass er Zohra vor einer Woche, nach Jom Kippur, zum letzten Mal gesehen hatte. Sie hat ten zusammen auf dem Campus der Har-Hazofim-Universität zu Mittag gegessen. Sie war zu ihm gekommen, weil er ihr helfen sollte, historische Dokumente über jemenitische Arbeit in der Kinneret-Siedlung zu finden, ihre obsessive Beschäftigung. Ein Lächeln verirrte sich auf sein Gesicht, als er ihr Argument zitierte, »wenn man vom Rückkehrrecht der Palästinenser redet, kann man ebenso gut vom Recht der Kinneret-Jemeniten sprechen, in die Siedlung zurückzukehren, aus der sie 1930 vertrieben wurden«. Sie erschien ihm in Ordnung, wie gewöhnlich, nichts Besonderes. Blass? Wieso denn blass? Sie hatte ausgezeichnet aus gesehen. Nur etwas aufgewühlt wegen der Kinneret-Affäre, er hatte sogar versucht, sie zu bremsen. »Sie dachte daran, ein kleines Gemeindemuseum für Kultur und Geschichte des jemeniti schen Judentums einzurichten, und anscheinend hatte sie ein wenig Unterstützung bekommen. Das ist das Letzte, worüber wir gesprochen haben, wir hatten eine Meinungsverschiedenheit –«, sagte er im Ton ungläubigen Erstaunens, »wenn ich gewusst hätte, dass es das letzte Mal ... aber wie hätte ich es wissen können? Niemand konnte es wissen.«
Das kleine Aufnahmegerät stand zwischen ihnen auf dem Strohschemel, und Michael beobachtete den Zeiger, der jedes Mal, wenn er seine Schwester erwähnte, bis zum Ende der Skala ausschlug, und danach auch, als er Linda erwähnte. »Sie wird gleich kommen, Linda«, sagte er, »Linda O’Brian, ich glaube, sie war die Letzte, die mit ihr geredet hat.«
Michael dankte allen unsichtbaren Geistern, die Balilati von dem Zimmer fern hielten. Er konnte sich seine Reaktion nur zu gut vorstellen, wenn er Natanael Bascharis Worte gehörte hätte.
»Linda O’Brian? Die Maklerin?«
»Ja, warum, kennen Sie sie?« Natanael Baschari versteifte sich, und sein Gesicht ließ eine zusätzliche Anspannung erkennen.
»Per Zufall«, erwiderte Michael und erinnerte sich daran, wie sie ihr Gesicht weggedreht hatte, nachdem sie die Leiter zum Speicher hinaufgestiegen war, und es vermieden hatte, Zohras Leiche anzuschauen. Ob sie sie wohl am Kleid oder an den Schuhen erkannt hätte, wenn sie damals hingesehen hätte?
»Sie wird gleich kommen«, wiederholte Natanael. »Sie wohnt ganz in der Nähe« – mit seiner braunen Hand deutete er zum Ende der Straße –, »direkt gegenüber unserer Synagoge.« Er holte mühsam Atem: »Alle wohnen hier, die Bethlehemer Landstraße verläuft zwischen dem Haus, in dem ich geboren wurde, und meinem jetzigen Haus.«
Abwesend, und erst nachdem Michael zweimal gefragt hatte, erklärte Natanael Baschari, wie sich seine Schwester als etwa Vierzehnjährige mit Linda angefreundet hatte, und erzählte, dass sein Verhältnis zu seiner Schwester eher wie das zu einer Tochter war, wegen des Altersunterschiedes zwischen ihnen. »Ich war schon aus dem Haus, als sie geboren wurde«, erläuterte Natanael, »aber wegen meiner Auffassung von Familie war es mir wichtig, eine Beziehung zu ihr aufzubauen. Von Kindheit an, schon als sie klein war. Sie ist sehr, sehr intelligent, Zohra, und ich war sicher, dass sie nach dem Militär studieren würde. Ich war dafür, dass sie zur Armee geht, um sie von zu Hause wegzuholen, aus dieser behüteten
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