Ochajon 05 - Denn die Seele ist in deiner Hand
nachdem er sich mit Namen und Rang vorgestellt hatte.
»Wieso meinen Sie das?«, fragte sie mit leiser, ruhiger Stimme, »ich habe sie schon seit über einer Woche nicht mehr gesehen.«
»Ihre Mutter sagte, sie sei zu Ihnen nach Tel Aviv gefahren an dem Abend, an dem sie verschwand.«
»Vielleicht hat Zohra das zu ihrer Mutter gesagt, aber sie kam nicht bei mir an, wir hatten auch nichts verabredet.«
»Dann haben Sie sie also nur vor einer Woche gesehen? Wann und wo genau?«
»Am Donnerstag letzter Woche, in Jerusalem.«
»Aber Sie haben seitdem mit ihr gesprochen?«
»Fast jeden Tag, am Telefon.«
»Und wann haben Sie das letzte Mal mit ihr gesprochen?«
»Vor ein paar Tagen, ich erinnere mich nicht genau, vielleicht am Sonntag.« Sie schniefte, wühlte in ihrer großen Stofftasche, grub ein Papiertaschentuch aus und hob es an die Nase.
»Sie standen sich nahe«, stellte Michael fest.
»Sehr. Wie Schwestern«, sagte sie, und plötzlich barg sie ihr Gesicht in den Händen, und ihre Worte kamen langsam und dumpf: »Ich glaube es immer noch nicht, dass das wirklich passiert ist. Sie hatte so viele Pläne. Sie haben keine Ahnung ...«
Sie drehte ihm den Rücken zu, und ihre Schultern zuckten.
»Aber als sie seit Sonntag nichts von ihr hörten ...?«
»Ich habe sie gesucht, ich habe in ihrer Arbeit angerufen, auch ihre Handynummer versucht, aber ich habe sie nicht gefunden. Ich wollte nicht zu Hause, bei ihren Eltern anrufen, denn ...« Sie blickte in Richtung des Hauses.
»Ist das vorher schon einmal passiert, dass sie sagte, sie würde zu Ihnen fahren, und nicht gekommen ist?«
»Normalerweise nur nach Absprache mit mir.«
»Was heißt das, haben Sie ihr für irgendetwas ein Alibi gegeben? Was hatte sie zu verbergen?«
»So kann man das nicht bezeichnen, ›Alibi‹. Es war nur wegen ihrer Eltern, damit sie sich keine Sorgen machten, wenn sie irgend wohin ... um keinen Streit mit ihnen heraufzubeschwören – aber häufig haben wir uns tatsächlich in Tel Aviv getroffen, sind zusammen ausgegangen, und nachher hat sie bei mir geschlafen. Und manchmal kam sie direkt nach der Arbeit und ...«
Der Wagen, der die schmale Straße entlangfuhr, hielt mit kreischenden Bremsen, was den Hund auf der gegenüberliegenden Gehsteigseite wieder zum Kläffen brachte. Balilati legte die Hände aufs Steuerrad und betrachtete sie durchs offene Fenster. Der Offi zier neben ihm, in staubiger, grüner Uniform, ein schwarzes Käpp chen unter der Schulterklappe, sprang aus dem Wagen, stieß das Tor auf und stürmte den Pfad entlang.
»Lass ihn durch!«, schrie Balilati, während er das Auto ab sperrte und ihm folgte, »das ist der jüngste Bruder. Wie sein Vater, sagt kein Wort. Keinen Ton lässt er raus«, er blickte zur Straße, »aber da kommt ja schon der zweite, um wie viel wetten wir, dass das der große Bruder ist? Schau mal, siehst du ...« Noch bevor er den Satz zu Ende bringen konnte, schwang das Tor erneut heftig auf, bis zum Anschlag, und der Mann, der nun außer Atem und totenbleich ungelenk den Pfad entlanggerannt kam, schubste den Nachrichtenoffizier aus dem Weg und stürzte ins Haus.
Sechstes Kapitel
Natanael Bascharis Hände zitterten, als er die Zigarette nahm, die Michael ihm angeboten hatte, und sich über dessen Feuerzeug beugte. »Entschuldigen Sie mich«, er sog an der Zigarette, »ich muss mich setzen.« Einen Augenblick schwankte er im Stehen und fiel dann fast auf das schmale Bett im Zimmer seiner Schwes ter. Michael saß am Schreibtisch und zeichnete mit den Fingern unsichtbare Linien in die Formicafläche. Er studierte die goldenen Pünktchen, mit denen die Oberfläche gesprenkelt war, und von dort wanderte sein Blick schließlich zu Natanael Baschari hinauf, der größer als seine Eltern war. Mit seinem länglichen, schmalen Gesicht glich er stark seiner Mutter, und die dünn geschnittenen Lippen verliehen seinem Gesicht einen strengen Ausdruck. Seine Augen hinter den dicken, silbergerahmten Brillengläsern blinzelten unablässig, und wenn sie offen waren, zeigten sie den erstarrten Blick eines Menschen, der sich im Schockzustand befindet.
»Wenn Sie mich fragen, was ich jetzt empfinde«, sagte er zu Michael und heftete seinen Blick auf das Fenster, das zum Hinter hof hinausging, »dann kann ich Ihnen gar nichts sagen. Ich denke, das ist der Schock. Ich fasse es einfach nicht – Zohra war das lebendigste Geschöpf, das ich kannte, wenn Sie mich bitten würden, sie zu beschreiben,
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