Ochajon 05 - Denn die Seele ist in deiner Hand
nicht können – hängt davon ab, wie man es definieren will, und ich – ich will nicht.«
Michael, der auf den gesenkten Kopf blickte, bemerkte, es sei seltsam, dass ausgerechnet ein Historiker es vorziehe, nicht in der Vergangenheit zu graben, sogar wenn sie schmerzhaft sei.
»Ja«, stöhnte Natanael Baschari, »auch Zohra hat das gesagt, auch sie hat es nicht verstanden.« Und immer noch ohne den Kopf zu heben, erklärte er, dass ein Historiker zu sein nicht bedeute, dass man sich für alle Bereiche der Vergangenheit interes siere, und ganz besonders nicht für die, mit denen man persön lich verbunden sei, denn sie würden die Sicht verderben und dann verliere man die Objektivität.
Jahre waren vergangen, seitdem sich Michael an jener Kreuzung seines Lebens befunden hatte, an der er den Verführungskünsten Imanuel Schorrs erlegen war, sich der Mordkommission angeschlossen und damit den akademischen Weg und die Doktorarbeit aufgegeben hatte. »Ich verstehe, dass das der Grund ist, weshalb Ihre Wahl auf eine Spezialisierung in russischer Geschichte gefallen ist«, sagte er mit fragendem Unterton, »um hinlängliche Objektivität zu haben?«
»So in etwa«, murmelte Natanael Baschari, »das und ein Zusammentreffen von Umständen: Es gab eine freie Planstelle, und ich schätzte meinen Professor sehr. Ich habe Russisch schon im ersten Studiengang gelernt und mich darin ausgezeichnet, ich hatte nicht das Gefühl, dass ich wegen meiner Abstammung beschränkt auf ...« Plötzlich waren Wut und Abscheu in seiner Stimme zu hören: »Ich hasse Erpresser, Schmarotzer und La mentierer und ...« Er holte tief Luft. »Am allermeisten hasse ich es, dass die Mitglieder der jemenitischen Volksgemeinschaft, wie man uns nennt, oder sogar Marokkaner, kurz gesagt, die Orientalen, in dem Unrecht herumwühlen, das man ihnen an getan hat, und danach wollen sie darauf aufbauen. Im Leben vorankommen auf Basis der Benachteiligung in der Vergangenheit.«
Für einen Moment fühlte sich Michael versucht anzumerken, dass es trotz allem einen Unterschied zwischen Ausschlachtung von Diskriminierung und kritischer Erforschung dessen gebe, was war, doch er ließ es. Er fragte Natanael noch einmal nach seinen Beziehungen zu seiner Schwester, und wieder bekam er zu hören, wie außerordentlich nahe sie sich gestanden hatten und dass es in letzter Zeit keinerlei Spannungen zwischen ihnen gegeben habe, das heißt, außer vielleicht einigen bedeutungslosen Meinungsverschiedenheiten über »die jemenitische Frage«.
»Bedeutungslos?«, hakte Michael nach.
»Schauen Sie«, sagte Natanael Baschari, »sie dachte – und es gibt einige, die so denken –, wenn von Jemeniten die Rede ist, ginge es um die persönliche und kollektive Beleidigung der gesamten ethnischen Gruppierung. Zohra behauptete, und sie steht nicht allein damit, dass der Fall des Rabbiners Uzi Meschulam, der wegen der Affäre mit den jemenitischen Kindern einen regelrechten Krieg entfesselte, ein Ausdruck dieser Entfremdung im Verhältnis zum Staat war. Als Historiker verstehe ich, wie man ... das Phänomen Uzi Meschulam als Reifestadium der jemenitischen Gemeinschaft definieren könnte. So sah es Zohra. Sie behauptete, dass ich, wie die Generation meiner Eltern, die den Preis gezahlt hat, dass also wir ... meine Eltern und ich, einen ver söhnlichen Charakter hätten, und sie ... sie wollte militant sein und nicht versöhnlich, das war alles«, schloss Natanael und presste die Lippen aufeinander, als gebe er hiermit zu verstehen, dass er nicht weiter darüber zu reden beabsichtigte. »Das ist jetzt wirklich kein Thema.«
Auch auf dieses Thema würde er eventuell noch ausführlicher zurückkommen, nahm sich Michael vor, und fragte Natanael Baschari dann ohne Umschweife nach dem Abend, an dem seine Schwester ermordet wurde.
»Am Montag vor dreieinhalb Tagen«, präzisierte er.
»Montag? Abends? In der Früh, da war ich in der Universität, und abends, am Abend, von sieben bis neun, war ich in der Synagoge bei einer Sitzung, wir haben Vorbereitungen für Simchat Thora getroffen.«
»Und ab neun?«
»Ab neun?« Natanael Baschari zog die Augenbrauen zusammen, als bemühe er sich, sich zu erinnern, und sein Atem beschleunigte sich hörbar. »Ich war ... ich war bei Linda O’Brian, wir sind beide Mitglieder im Verwaltungsrat der Synagoge, und normalerweise sitzen wir nach der Versammlung ein bisschen bei ihr zusammen, sie wohnt ganz nah. Direkt gegenüber. An der Ecke ...«
Ein
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