Ochajon 06 - Und Feuer fiel vom Himmel
schon da sind, noch nie im Leben hab ich den Ort hier um diese Zeit dermaßen voll gesehen.«
Zadik saß an der Kopfseite des großen, rechteckigen Tisches im Nachrichtenraum. Blasses Licht, das durch die große, von getrockneten Regentropfen verfleckte Fensterscheibe ins Zimmer drang, fiel auf die grauen Strähnen in seinem kurz geschorenen Haar und ließ auch die Spuren der letzten Nacht hervortreten, die geröteten Augen und dunklen Ringe, die seinem vollen Gesicht den Ausdruck eines erschöpften Lebemanns verliehen. Er blickte in die Gesichter der Anwesenden, die seinen Blick ernst erwiderten, und hob dann die Augen zu der Uhr, die ihm gegenüber an der Wand hing, hinter den zwei Monitoren, die die Sendungen von Kanal Eins und Zwei zeigten. Er wollte Niva, der langjährigen Sekretärin der Nachrichtenabteilung, die für ihre scharfe Zunge bekannt war, eigentlich etwas erwidern, doch seine persönliche Sekretärin, Aviva, kam ihm zuvor. Wie gewöhnlich saß sie auf einem Polstersessel hinter ihm und wirkte, als hörte sie überhaupt nichts – sie überprüfte vorsichtig die dunkle Linie, die ihre vollen Lippen begrenzte, legte dann den Lippenstift und den runden Spiegel in ein kleines Etui und steckte das Ganze in ihre Handtasche. Dann zog sie schwungvoll den Reißverschluss zu, versenkte die Handtasche unter Zadiks Stuhl und sagte: »Nur schade, dass jemand sterben muss, damit die Leute rechtzeitig zur Morgensitzung kommen.« Danach streckte sie ihre langen Beine seitlich aus und fuhr fort: »Aber es ist schon zwanzig nach acht, sogar jetzt – wieder mal Verspätung«, wobei sie sorgfältig ihre Wade und den schmalen Knöchel studierte.
Zadik strich heftig die Ränder des Blattes glatt und fuhr mit dem Stift, mit dem er zuvor auf den Tisch geklopft hatte, um Ruhe herzustellen, über die Tabellenlinien, unterstrich die Zahlen, die die Zeit für die jeweilige Reportage bezeichneten, ging mit dem Stift auch über die Ordnungsbuchstaben der Details in der Themenrubrik und setzte zwei Ausrufezeichen hinter die Überschrift »Der Streik heute«. Aus dem Augenwinkel gewahrte er Nivas rosige Kopfhaut, die unter den kurzen, roten Strähnen ihres dünnen Haars hindurchschimmerte. Vor ein paar Tagen war sie plötzlich mit dieser Frisur aufgetaucht, rot anstelle der wilden grauen Locken, die sie zuvor gehabt hatte. Sie beugte sich über Avivas Bein, befühlte den glänzend roten Schuh und flüsterte: »Neu?«
»Stell dir vor – hundertzwanzig Schekel, Leder, italienisch, und sieh mal, was für ein hübsches Bein er macht«, lächelte Aviva und glättete aufmerksam die Nähte ihres dünnen blauen Pullovers, verschränkte ihre Hände ineinander und streckte ihren Körper, so dass ihre Brüste hervortraten. Für einen Moment warf Zadik einen Blick auf diese beiden so unterschiedlichen Frauen. Niva erschien ihm öfter als eine von denen, die »aufgegeben« hatten – ein Begriff, den er von Rubin übernommen hatte und der bedeutete, dass sie sich keinerlei Mühe mehr gab, ihre Weiblichkeit zu kultivieren. Rubin hatte ihm einmal auf einer gemeinsamen Auslandsreise erklärt, dass Frauen, die aufhörten, ihr Haar zu färben und auf ihre Figur zu achten und die dann gerne mit karierten Flanellhemden und dicken Wollstrümpfen herumliefen, tausendmal sagen konnten, sie seien für den »natürlichen Look«, hätten es satt, wie Puppen auszusehen, und seien für die Befreiung der Frauen von dem ganzen Schwachsinn, den die Männer ihnen zur Auflage machten. In Wahrheit seien sie jedoch verzweifelt und hätten die Möglichkeit, Männern zu gefallen, abgeschrieben. Mehr noch, sie hätten das Bedürfnis aufgegeben, so zu wirken, als glaubten sie noch an die Chance, dass jemand sie lieben würde, und sogar das Bedürfnis, wenigstens so zu tun, als hofften sie darauf. Es war anzunehmen, dass Niva Aviva beneiden oder sie verachten würde, da sie mit ihrem Erscheinungsbild das absolute Gegenteil darstellte: eine gut aussehende Blondine, die seiner Berechnung nach bereits über vierzig sein musste, obwohl man ihr höchstens fünfunddreißig gegeben hätte, mit flatternden Augenlidern und überlangen Wimpern, einem überall perlenden Lachen, die jeden Mann mit Schmollmund anlächelte und mit langem, rotem Fingernagel ihre Lippenränder mit einer Art Verheißung berührte … Hätte er sie nicht so viele Jahre gekannt, er hätte fast denken können … Doch es war besser, nicht daran zu denken … da käme nur Ärger dabei heraus.
Weitere Kostenlose Bücher