Ochajon 06 - Und Feuer fiel vom Himmel
Lippen mit der Zunge und biss sich danach auf die Unterlippe. »Es gibt hier eine ganze Menge komischer Dinge in jeder Hinsicht, wenn ihr mich fragt.«
»Was zum Beispiel?«, erkundigte sich Michael. »Wir fragen dich.«
»Gut, zuerst einmal, was hat er überhaupt hier gemacht? Es gibt keine Anzeichen, dass er zwei Tage hier gewesen wäre – er hat hier vielleicht ein Glas Wasser getrunken, vielleicht auch einen Kaffee, aber wann ist er denn bitte angekommen? Hat er hier geschlafen? Die Nachbarin sagt, sie hat immer gewusst, dass der Bruder von Dafna Gottlieb in Amerika ein reicher Mann ist, er hat ihr sogar mit dem Scheidungsanwalt geholfen und das alles, so sagt die Nachbarin, wieso ist er dann in dieser Wohnung hier abgestiegen? Warum ist er nicht ins Hotel gegangen?«
»Zeigen Sie mir kurz die restlichen Sachen in der braunen Tüte, die Dokumente«, bat Schorr, und sie reichte sie ihm stumm. Er lehnte sich an den Tisch, blätterte die Papiere rasch durch und hielt bei einem Zeitungsausschnitt inne, der in dem amerikanischen Pass lag. »Was sagst du dazu?«, fragte er Michael und gab den Ausschnitt an ihn weiter. Es war Tirzas Todesanzeige.
»Er hat die Anzeige gesehen und ist ins Flugzeug gestiegen?«, dachte Balilati laut nach. »So ist das mit Beziehungen aus der Vergangenheit, es gibt keinen Ersatz, das hab ich immer gesagt. Das sind die Freunde aus der Schulzeit, es gibt keine besseren, nie. Das ist wie Familie, besonders hierzulande, das ist dermaßen israelisch, das ist so schön bei uns, mit den ganzen Jugendbewegungen und Ausflügen.« Er deutete mit dem Kopf in Richtung der Fotografie auf dem Tisch. »Schaut euch dieses Lächeln an, was wetten wir, dass er danach nicht mehr oft so gelächelt hat?«
Keiner erwiderte etwas darauf, doch alle sahen Michael an, der sich auf dem Holzstuhl am Tisch niederließ und sämtliche Papiere durchblätterte. »Das ist alles, was ihr gefunden habt?«, fragte er, und Nina nickte bestätigend. »Es fehlt nämlich die Brieftasche, Kreditkarten, Bargeld«, stellte er fest. »Habt ihr irgendwo anders noch etwas gefunden? Im Koffer? In den Taschen?«
»Nein«, erwiderte Nina, »nirgends.«
»Aber Raubmord steht nicht zur Debatte«, murmelte Schorr, »niemand hat das hier in Erwägung gezogen, oder?«
»Nein«, antwortete sie, »es liegt auch kein Einbruch vor, alle Zeichen besagen, dass er jemanden hereinließ, den er kannte. In der Küche ist, war, jedenfalls ein elektrischer Wasserkocher, Gläser mit Kaffee und das alles, im Spülbecken … man hat es abgewaschen, aber es gibt Spuren, dass man Kaffee gemacht hat.«
»Es gab einen Gast«, mischte sich Lilian ein, »die von der Spurensicherung sagen, sie waren in der Küche, mindestens noch einer außer ihm …« Sie deutete mit dem Kopf auf die Leiche, »sie wissen bloß noch nicht, ob Mann oder Frau.«
»Also kein Geld, nichts außer den Pässen und dem Flugticket?«, fragte Michael.
»Das würde ich nicht sagen«, murmelte Balilati, der sich während des Gesprächs neben das schmale Bett gekniet, darunter gespäht und die Hand unter die alte Sprungfedermatratze geschoben hatte. Er zog ein rechteckiges, lila Plastiketui von der Sorte hervor, wie sie von Reiseagenturen zur Aufbewahrung von Flugtickets ausgegeben werden, prüfte mit dem Nagel seines kleinen Fingers die Reste der nahezu abgeriebenen vergoldeten Buchstaben und entnahm ihr ein Stück vergilbtes Zeitungspapier sowie einige Briefe, die von einem kleinen Gummi zusammengehalten wurden. Totenstille herrschte im Raum, bis Balilati mit hohntriefender Stimme sagte: »Hauptsache, die Spurensicherung ist hier schon fertig, Durchsuchung abgeschlossen, was?« Er blickte sich um und rief: »Joe, Jo-Jo, wo bist du?« Der Mann von der Spurensicherung tauchte in der Tür auf und fragte müde: »Was ist jetzt wieder?«
»Hab ich verstanden, dass ihr hier fertig seid?«, sagte Balilati und wedelte mit dem Plastiketui.
»Was ist das?« Joe näherte sich und musterte das lila Etui. »Wo ist das jetzt aufgetaucht?«
»Von da!«, triumphierte Balilati und zeigte auf das Bett. »Der Mensch hat die wichtigen Dinge unter seinen Kopf gelegt, und was ist ihm wichtig? Nicht das Geld und die Kreditkarten, sondern was ganz anderes, das ein Anhaltspunkt für uns sein könnte, wenn wir’s finden, das heißt, wenn man nicht sagt, mit dem Zimmer sind wir schon fertig.«
»Ich meinte fertig im Sinne von Fingerabdrücken und dem Ganzen«, sagte der Mann von der Spurensicherung und
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