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October Daye: Nachtmahr (German Edition)

October Daye: Nachtmahr (German Edition)

Titel: October Daye: Nachtmahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Seanan McGuire
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Kabinen und Korridoren verschmelzen. Lily war eine Undine, ein Flussgeist, mit den Gewässern des Teegartens verbunden, und ihr Mugel spiegelte ihre Natur. Es war ein verflochtenes Reich voller Moos und kleiner Bäche, friedlich und vollständig im Reinen mit sich selbst.
    Auf dem nächsten Flecken relativ trockenen Bodens kniete Tybalt nieder und bettete Karen ins Moos. Sie schlief noch immer. Als ich zu ihnen eilte, erhob er sich und trat zurück. Ich fiel auf die Knie und legte meine Hand an ihre Wange, um ihre Temperatur zu prüfen. Sie war kalt. Ich schlüpfte aus Tybalts Jacke und breitete sie über sie. Vielleicht nützte das gar nichts, aber es konnte zumindest nicht schaden.
    »October … «
    »Lass es.« Ich hielt den Blick auf Karen gerichtet und schaute ihn nicht an. Wenn ich Mitleid in seinem Gesicht sah, würde ich schreien. »Lass es einfach.«
    Ein betretenes Schweigen breitete sich aus. Es hatte nie so ein Schweigen zwischen uns gegeben, ehe er mir nach Fremont gefolgt war. Früher hatte es überhaupt kein Schweigen zwischen uns gegeben. Er beleidigte mich, ich schoss nach Kräften zurück, und alles blieb ganz klar. Jetzt fühlte sich nichts mehr klar an – meine Gefühle waren von Klarheit weit entfernt, seine Gefühle waren mir ein völliges Rätsel – und ich hatte keine Ahnung, wie ich damit umgehen sollte.
    Der Klang von zartem Geplätscher hinter uns war eine Erlösung. Ich drehte mich um und erblickte eine Wassersäule, die sich aus dem Teich erhob. »Hallo, Lily«, sagte ich.
    Das Wasser floss näher ans Ufer und formte sich zu einer verkleinerten Gestalt der Herrin des Teegartens. Die Luft um sie herum zog sich zusammen und bildete einen dunkelblauen Kimono, der glänzte wie regennasser Stein. Eine Reihe von juwelenbesetzten Nadeln hielt ihr langes, dunkles Haar zu einem kunstvollen Knoten zusammen.
    »October, Tybalt«, sagte sie und klang überrascht. Ihr Akzent war stärker als gewöhnlich, da sie gewissermaßen »aus dem Bett« kam. Undinen sind normalerweise fest an den Ort ihrer Herkunft gebunden. Lily kam aus Japan. Eines Tages würde ich sie dazu bringen, mir zu erzählen, wie sie es geschafft hatte, nach San Francisco umzuziehen. »Ich habe euch nicht erwartet.«
    »Entschuldige, dass ich nicht angerufen habe«, sagte ich und erhob mich. »Es war alles ein bisschen hektisch.« Tybalt schnaubte leicht ob dieser Untertreibung.
    Lily betrachtete Karen mit gerunzelter Stirn, die Schuppen um ihren Mund zogen sich zusammen. »Du hast ein schlafendes Kind bei dir. Ist mir da etwas entgangen?«
    »Sie will nicht aufwachen«, sagte ich. »Ihre Mutter rief mich an, und – «
    Lily hob eine Hand und schnitt mir das Wort ab. »Was hast du mit deinen Händen angestellt?«
    »Das würde ich auch gern wissen«, bemerkte Tybalt.
    »Verbrannt«, erwiderte ich mit einer Grimasse.
    »Und wie hast du diese ungeheuer kluge Tat an dir vollbracht?«
    »Ich hab ein Fenster berührt.«
    Lily setzte sich und bedeutete uns, es ihr gleichzutun. »Jetzt erkläre, und wenn du fertig bist, mag es sein, dass du alles noch einmal erklären musst, diesmal mit richtigen Worten, aber wir werden sehen. Vielleicht überraschst du mich ja.«
    »Na, das ist ja reizend.« Ich setzte mich und spürte nur allzu deutlich, dass Tybalt sich dicht neben mir niederließ, dann begann ich meinen Bericht. Er unterbrach mich von Zeit zu Zeit mit Einwürfen über die an seinem Hof vermissten Kinder. Lily lauschte die ganze Zeit aufmerksam, die Hände im Schoß gefaltet.
    Als wir fertig waren, fragte ich: »War das klar genug?«
    »Durchaus«, sagte sie. »Gib mir deine Hände.«
    Ich runzelte die Stirn. »Was?«
    »Komm schon, du magst ja gelegentlich nicht ganz bei dir sein, aber ich habe dich noch nie dumm erlebt.« Tybalt schnaubte. Lily schüttelte nur den Kopf. »Diese Verbrennungen müssen versorgt werden.«
    »Oh.« Ich warf Tybalt einen scharfen Blick zu, rutschte rüber und reichte ihr meine Hände. Sie nahm sie sanft in ihre.
    Die Verbände abzuziehen schmerzte mehr, als ich geahnt hatte. Wahrscheinlich, weil die Verbrennungen weit übler waren, als ich dachte. Tybalt wurde ganz starr und stieß leise Flüche aus, als er sie sah. Mir ging es ähnlich: Die Haut war voller Blasen und so tief aufgesprungen, dass man das rohe Fleisch darunter sah. Wer es nicht besser wusste, konnte meinen, ich hätte meine Hände direkt ins offene Feuer gesteckt und minutenlang hineingehalten. Dummerweise wusste ich es besser. Ich wäre mit

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