October Daye: Nachtmahr (German Edition)
Wechselbalg nicht mal erkennen, wenn er sie biss. Es war eine gute Tarnung. Damit hatte sie sogar mich irregeführt, als wir uns zum ersten Mal begegneten.
»Hallo, Marcia.« Sie sah aus wie ein Mensch, war es aber nicht ganz. Irgendwo in ihrem Stammbaum gab es genug Fae-Blut, um sie über die Grenze zu ziehen in eine Welt, wo Glas brennt und Kinder in der Nacht verschwinden. Ein blasser Schein umgab ihre Augen und verriet eine dicke Schicht Fae-Salbe. So dünn, wie ihr Blut war, brauchte sie die.
Sie musterte Tybalt und strengte sich an, durch den Sieh-nicht-her-Zauber zu spähen, mit dem er Karen verbarg. Ihre Fae-Salbe reichte offenbar, um ihr zu verraten, dass er irgendetwas trug, aber nicht mehr. Schließlich gab sie es auf und fragte: »Worauf wollt ihr beiden denn los?«
»Dies und das«, sagte ich. »Wie ist die Einlassgebühr heute?«
»Erwartet Lily euch?«
»Nein.« Ich kündige mein Kommen selten telefonisch an. Nicht weil ich es so liebe, alle meine Bekannten zu überraschen – es ist eher so, dass ich oft nicht weiß, wohin der Tag mich führt, bis ich tatsächlich da bin.
»Kein Eintritt.« Sie grinste. »Lily beschwert sich schon die ganze Zeit, dass du nie zu Besuch kommst.«
»Aha.« Vor dem Hintergrund der verschwundenen Kinder und mit meinen verbrannten Händen war mir nicht nach einem Schwätzchen. Tybalts Gesichtsausdruck nach zu urteilen ging es ihm ebenso. »Wir gehen dann mal rein.«
»Jederzeit.« Sie winkte uns durch, dann wandte sie sich wieder dem hingebungsvollen Feilen ihrer Nägel zu. Wie die meisten Leute, die an der Grenze zu Faerie lebten, erkannte sie ein Danke, das sie nicht hörte. Einer der befremdlicheren Grundsätze im Moralkodex der Fae besagt, dass ein Dank unausgesprochene Verpflichtungen jenseits der offensichtlichen Bedeutung nach sich zieht und daher um jeden Preis vermieden werden muss. In Faerie ist man sehr erpicht darauf, Verpflichtungen zu vermeiden. Ich schätze, das ist einer der Gründe, aus dem die sterbliche Welt uns alle für Spinner und Gauner hält: Wir bedanken uns allenfalls dann, wenn man uns etwas schuldet.
Der Teegarten ist im Herbst immer wunderschön. Der japanische Ahorn färbt sich in zarten Orange-, Rot- und Goldtönen und lässt einzelne leuchtende Blätter in die Fischteiche fallen, wo sie dekorativ treiben. Die Wasserlilien blühen, und man sieht die bunten Umrisse der Fische, die zwischen ihren Stängeln umherschießen. Hölzerne Stege winden sich durchs Gelände und verbinden die hohen, eleganten Brücken.
Unglücklicherweise ist Holz glitschig, wenn es nass ist, und die Stege waren sehr nass. Hätte ich Karen getragen, hätten wir gute Chancen gehabt, in einem Teich zu landen. Tybalt hingegen kam nicht ein Mal aus dem Tritt, als er geschwind zum Fuß der Mondbrücke hinabeilte, die den Eingang zu Lilys Mugel markiert.
Der Bogen der Mondbrücke ist in einem fast perfekten Halbkreis gebaut, der sich steil in die Luft reckt. Der Scheitelpunkt verschwindet hinter einem Vorhang aus Zierkirschenzweigen und lässt die Brücke erscheinen, als reiche sie bis in die Unendlichkeit. Diese Illusion liegt näher an der Wahrheit, als die meisten Leute je bemerken werden.
Leichtfüßig erklomm Tybalt die Brücke, ohne innezuhalten, keine Spur behindert von dem Umstand, dass er ein bewusstloses Mädchen trug. Ich murrte vor mich hin, packte das Geländer und begann den Aufstieg. Die Mondbrücke hat noch nie zu meinen Lieblingsplätzen in dem Teegarten gehört, dabei erklettere ich sie normalerweise mit unverbrannten Händen. Spike war mir voraus und zwitscherte, während er hinaufhüpfte.
Die Äste wuchsen über Kopf immer dichter ineinander und schirmten das Sonnenlicht ab, bis der Himmel ganz verschwand und von einem feinmaschigen Weidengeflecht ersetzt wurde. Glühwürmchen und Kobolde, die in einem Dutzend Pastelltönen glitzerten, erleuchteten den Weg. Ich machte noch einen Schritt. Die Brücke löste sich auf, und ich befand mich auf einem Weg mit Kopfsteinpflaster, der sich durch sumpfiges Marschland schlängelte. Wir hatten Lilys Mugel betreten.
Die Mugel von Faerie sind kleine, aus den Landschaften der Sommerlande gehauene Areale, so zugerichtet, dass sie den Bedürfnissen und Begehrlichkeiten der Fae gerecht werden. Sie spiegeln meist die Persönlichkeiten ihrer Besitzer. Manche Mugel sind karge Berglandschaften, andere sind Burgen, einer, in Fremont, ist eine labyrinthartige Computerfirma, wo die Gänge zu einer endlosen Reihe von
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